Making a Murderer

Making a Murderer

"Im Gegensatz zu vielen anderen True-Crime-Formaten verortet »Making a Murderer« den Horror nicht in vermeintlichen staatlichen Unterlassungen, sondern in den staatlichen Aktivitäten selbst. Daraus ergeben sich Anhaltspunkte, die sowohl die Mechanismen staatlicher Selbsterhaltung als auch den universellen Herrschaftscharakter bürgerlichen Rechts sichtbar machen." Tanja Röckemann hat die Dokumentarserie, die beim Streaming-Dienst Netflix erhältlich ist, gesehen.

Making a Murderer

02.05.2016 14:52

Regie: Laura Ricciardi und Moira Demos; Staffel 1 (10 Episoden); USA 2015; zu sehen via Netflix

Die Darstellung von proletarischen Milieus ist, ähnlich der Beschäftigung mit Armut und Arbeitswelt, eine Seltenheit in zeitgenössischer Kunst. Auch die Kulturindustrie lässt lieber die Finger davon – es sei denn, es geht um sozialchauvinistische Denunziation. Anders verfährt »Making a Murderer«, eine im Dezember 2015 vom Streaming-Dienst Netflix veröffentlichte Dokumentarserie über den Gerichtsprozess gegen Steven Avery aus Manitowoc County, Wisconsin. Avery ist Angehöriger einer aus »bildungsfernen« Sonderlingen bestehenden Familie, die in Wohnwagen und schlichten Häusern auf dem gemeinsam betriebenen Schrottplatz lebt.

Averys Geschichte ist zunächst die einer unerhörten Begebenheit: Er sitzt, offenbar als unmittelbares Resultat persönlicher Abneigungen innerhalb der ermittelnden lokalen Behörden, 18 Jahre lang im Gefängnis. Durchweg beteuert Avery seine Unschuld, und 2003 erfolgt der zweifelsfreie Nachweis, dass er die ihm angelastete Vergewaltigung und den versuchten Mord unmöglich begangen haben kann. Avery kommt frei, kehrt zu seiner Familie zurück und beginnt, sein Leben wiederaufzubauen. Außerdem strebt er eine aussichtsreiche millionenschwere Schadensersatzklage gegen besagte Behörde an – und zwei Jahre später folgt die nächste Festnahme, unter der Regie derselben Polizisten und Staatsanwälte; diesmal wegen Mordes. 2007 wird Avery trotz haarsträubender Beweislage zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Seine Schadensersatzklage gegen Manitowoc County, die bereits im Vorfeld ein ausgesprochen schlechtes Licht auf Polizei und Staatsanwaltschaft geworfen hat, ist vom Tisch.

So weit das Unerhörte – das wie immer auch das Gewöhnliche in sich trägt. In »Making a Murderer« wird dieser notwendige Wechsel vom Besonderen zum Allgemeinen erfreulicherweise durch die Verfasstheit der Serie selbst nahegelegt: Im Gegensatz zu vielen anderen True-Crime-Formaten verortet »Making a Murderer« den Horror nicht in vermeintlichen staatlichen Unterlassungen, sondern in den staatlichen Aktivitäten selbst. Daraus ergeben sich Anhaltspunkte, die sowohl die Mechanismen staatlicher Selbsterhaltung als auch den universellen Herrschaftscharakter bürgerlichen Rechts sichtbar machen.

Der Staat zeigt sich hier – man kennt das auch aus hiesigen Verhältnissen – als Männerbund, dessen Profiteure sich als Schutzbefohlene viktimisierter Frauen inszenieren. Für die Staatsanwälte, Richter und Polizisten, deren finanzielle Existenz und sozialer Status unmittelbar vom Staat abhängen, liegt ein individuelles Interesse an dessen Verteidigung ausgesprochen nahe. Geht es dann in einem Strafprozess – wie im Fall Avery – zugleich um mögliche Verfehlungen von Staatsbediensteten, braucht es meistens noch nicht einmal besondere Absprachen dafür, dass der Staat (als Ankläger und Vollstrecker zugleich) sich nicht selbst verurteilt. Die Annahme, dass die Rechtsform in irgendeiner Weise auf die Klärung und Beseitigung gesellschaftlicher Konflikte angelegt sei, ist ohnehin falsch. Vor Gericht stehen gegnerische Parteien einander gegenüber – zwangsläufig gewinnt die eine Seite und verliert die andere. Das Konzept Gerechtigkeit ist untrennbar verwoben mit der Form des Urteilsspruchs, der moralische Vorgang der Schuldzuweisung das Gegenteil von verändernder Erkenntnis.

In der »Jungle World« lobt Nicklas Baschek trotzdem ungerührt die »Kerntugenden des Rechtsstaats« – gemeint sind »Neutralität und Abstraktion« – und kritisiert, dass sie in der Serie zu kurz kommen. In dieser Idealisierung bürgerlicher Herrschaft ist sich die »Jungle World« mit der »FAZ« einig. Trotz der Aussage der Regisseurinnen Laura Ricciardi und Moira Demos, es ginge ihnen nicht um die Be- oder Entlastung von Einzelpersonen, sondern um einen kritischen Blick auf das Justizsystem, bemängelt Nina Rehfeld in der »FAZ«: »Das wirkt objektiv, doch liegt der Auswahl des Materials aus mehr als 700 Stunden Film eine Prämisse zugrunde, nämlich diejenige, für einen Unterprivilegierten einzutreten.« Nein, wirklich – wo kommen wir denn da hin? Und auch davon, dass Neutralität, Abstraktion und Objektivität als rechtsstaatliche Prinzipien die Ungleichheit der hiesigen Verhältnisse mit herstellen, wollen weder Rehfeld noch Baschek etwas wissen.

»Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn«, schrieb Karl Marx 1875 in der Kritik des Gothaer Programms, »aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst … und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht.« Dialektisch verzwickt zeigt sich in der Gleichheit vor dem Gesetz gerade auch der Klassencharakter bürgerlichen Rechts.

In einem Strafprozess manifestiert sich dieser Charakter etwa in der Gleichbehandlung aller Individuen und sieht dabei weitestgehend von der Notwendigkeit des Angeklagten ab, erhebliche finanzielle Mittel aufzubringen. Im konkreten Fall hatte Avery Schwierigkeiten, eine gute Strafverteidigung zu finanzieren, und konnte die festgesetzte Kaution nicht hinterlegen. »It was almost like a class thing«, lautete dann auch die messerscharfe Interpretation der Prozessvorgänge durch Kathleen Zellner, Steven Averys aktuelle Anwältin.

Durch ausführlich gezeigte Mitschnitte von Verhören und Prozessaufnahmen, aber auch durch die Begleitung der Familie Avery durch den Dschungel Rechtsstaat verdeutlicht die Serie außerdem den gigantischen Unterschied, den das (Nicht-)Vorhandensein bestimmter kognitiver und habitueller Fähigkeiten macht. Anders formuliert: Souveränität im Umgang mit Autoritäten, Selbstbewusstsein und Wissen um die eigenen Rechte stehen in den allermeisten Fällen in unmittelbarem Zusammenhang mit bürgerlicher Bildung. Und wer diese nicht hat, hat eine objektiv bessere Chance darauf, ganz neutral eingeknastet zu werden.