Timbuktu

Timbuktu

"Timbuktu" entwirft das gesellschaftliche Mosaik eines Landes unter Besatzung und ist eine realistische Bestandsaufnahme Malis am Übergang in eine neue koloniale Weltordnung.

Timbuktu

27.11.2014 15:42

Regie: Abderrahmane Sissako; mit Ibrahim Ahmed, Toulou Kiki; Frankreich/Mauretanien 2014 (Arsenal); 97 Minuten; ab 11. Dezember im Kino

Es ist wahrscheinlich reiner Zufall, und doch steckt eine zwingende Logik dahinter, dass Göran Hugo Olssons filmischer Essay »Concerning Violence. Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defense« (noch in deutschen Kinos; siehe konkret 9/14) und Abderrahmane Sissakos neuer Film »Timbuktu« mit nahezu identischen Einstellungen beginnen. Aus erhöhter Sicht (in Olssons Archivmaterial aus einem Helikopter, bei Sissako von der Ladefläche eines Geländewagens) verfolgt die Kamera eine Antilope, bei voller Fahrt eröffnen die Männer das Feuer auf das panische Tier. »Töte es nicht, mach es müde«, feuern die Jihadisten in »Timbuktu« den Schützen an, dann folgt ein Schnitt. Über 40 Jahre liegen zwischen den Bildern, aber sie zeigen eine Kontinuität auf, die in Sissakos Film stets als Subtext mitläuft.

Die koloniale Kontinuität weist weit über »Timbuktu« hinaus, denn das französische Militär, das seit fast zwei Jahren in Mali für »Sicherheit« sorgt, kommt als Akteur in Sissakos Film nicht einmal vor. Im Sommer startete Frankreich mit der Operation Barkhane die zweite Phase seines Antiterrorkrieges gegen die ausländischen Jihadisten, ein Ende der Intervention ist vorerst nicht abzusehen. Von der Anfangseuphorie über die Befreiung von den religiösen Fundamentalisten um die Ansar-Dine-Gruppe ist in Mali wenig geblieben. Kritiker zeigen sich angesichts der neuen hegemonialen Bestrebungen der einstigen Kolonialmacht eher besorgt. Die Frage wird laut, ob Mali mit den Gotteskriegern nicht sogar besser bedient wäre als mit einer längerfristigen Präsenz des militärisch- humanitären Komplexes.

Die Besonderheit von Sissakos Film besteht darin, dass er alle diese Themen nur implizit verhandelt, der politische Kontext aber unmöglich ignoriert werden kann. Politisches Kino im klassischen Sinn ist »Timbuktu« also nicht, in diese Kategorie fällt am ehesten Sissakos letzter Film »Bamako« von 2006. In »Bamako« sitzen die westlichen Institutionen, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, als verlängerter Arm der alten Kolonialmächte auf der Anklagebank. Abgehalten wird der Prozess in einem staubigen Hinterhof in der malischen Hauptstadt, Kläger ist das afrikanische Volk. (So geht das Leben im Hof während der Verhandlung auch ungerührt weiter, die Männer und Frauen rauchen und hören den Aussagen mehr oder weniger interessiert zu.) Die Plädoyers der Afrikaner sind rechtschaffen wütend, argumentativ schlüssig und bewegend – einem Lehrer fehlen, als er endlich vor dem Richter steht, die Worte.

Auf solche grandiosen Verfremdungseffekte, um der »Sache des Volkes« Gehör zu verschaffen, verzichtet Sissako in »Timbuktu«. Im gegenwärtigen Weltkino gilt Abderrahmane Sissako trotz gerade mal vier Regiearbeiten als einer der maßgeblichen Filmemacher, weil er die eigene diasporische Erfahrung (Sissako wurde in Mauretanien geboren, wuchs in Mali auf, studierte in der ehemaligen Sowjetunion und lebt seit den neunziger Jahren in Frankreich) und das Gefühl der Entfremdung mit einer unbestechlich klaren Analyse verbindet. Vor allem aber kommt in seinen Filmen eine Sprecherposition zu ihrem Recht, die seit dem Tod Ousmane Sembènes aus dem postkolonialen Kino der Subsahara nahezu verschwunden ist: eine selbstbestimmte afrikanische Subjektivität als Gegengewicht zum dominanten Afrika-Narrativ in den westlichen Medien, zu dem eben auch die Deutungshoheit über die Ursachen und Auswirkungen des Tuareg-Aufstands in Mali 2012 gehört. Sissako liefert mit »Timbuktu« keine Gegenerzählung zur offiziellen (westlichen) Version ab, es geht ihm vielmehr um eine alternative Darstellung: in der die Malier nicht untätig auf die Unterstützung der früheren Kolonialherren warteten, sondern aus dem Alltag heraus eigene Formen des zivilen Widerstands entwickelten.

So muss Sissako auch nicht erst umständlich erklären, dass der Aufmarsch der Islamisten lediglich eine Fortsetzung der kolonialen Vergangenheit Malis bedeutete. Stattdessen beschreibt er in knappen, manchmal absurden Miniaturen, wie das Regime der religiösen Fanatiker langsam, aber bestimmt das soziale Gewebe und das öffentliche Leben durchdringt. Musik und Gesang werden verboten, Fußbälle auch (die Jungen spielen trotzdem weiter, ohne Ball, eine Reminiszenz an das pantomimische Tennismatch in Antonionis »Blow Up«), Frauen müssen ihre Körper verschleiern (was zum furiosen Wutausbruch einer aufgebrachten Fischerin gegenüber den bewaffneten Männern führt), und junge Frauen werden entgegen den Gesetzen des Korans mit stolzen Gotteskriegern zwangsverheiratet. Dazu erzeugen die permanenten Lautsprecherdurchsagen in den Straßen eine akustische Dissonanz, die den Alltag der Menschen durchdringt. Einer von Sissakos Protagonisten ist der Nomade Kidane, der mit seiner Frau Satima und seiner Tochter Toya außerhalb von Timbuktu lebt. Durch einen tragischen Unfall, der den Gewaltverhältnissen im Land geschuldet ist, bekommt er die ganze Härte der neuen Gesetzgebung, die die Fundamentalisten installiert haben, zu spüren.

In Cannes, wo »Timbuktu« dieses Jahr im Wettbewerb lief (und skandalöserweise leer ausging), erzählte Sissako, dass ihn eine Zeitungsmeldung zu seinem Film inspiriert habe: Zwei Jahre zuvor hatte eine Gruppe Gotteskrieger in Mali ein Paar gesteinigt. Für einen Film über ein religiöses Regime ist das ein starkes Motiv, das in jeder westlichen Produktion als dramatischer Höhepunkt fungieren würde. Bei Sissako stehen die Bilder der Steinigung gleichwertig neben der abstrakten Tanzeinlage eines Jihadisten, dem Plädoyer des lokalen Imam gegen die rücksichtslose Auslegung der Scharia und der verzweifelten Suche Satimas nach ihrem verhafteten Ehemann.

»Timbuktu« entwirft das gesellschaftliche Mosaik eines Landes unter Besatzung, im ständigen Widerspruch zwischen politischer Fremdbestimmung und kultureller Identität. Hierfür findet Sissako eine filmische Form, die so klar und plausibel ist, dass er auf emotionale Überzeugungsarbeit verzichten kann. »Timbuktu« liefert eine realistische Bestandsaufnahme Malis am Übergang in eine neue koloniale Weltordnung, die sich entlang religiöser Frontlinien formiert. Außerdem ist es der überzeugendste antikoloniale Film des Subsahara-Kinos seit Sembènes »Ceddo«.        

Andreas Busche