12 Tage

12 Tage

Der  großartige Dokumentarfilm "12 Tage" macht die Mechanismen eines sonst verborgenen bürokratischen Apparats sichtbar, der darüber entscheidet, ob ein Mensch der Gesellschaft angehören darf oder in eine Psychiatrie eingewiesen wird. Von Tim Lindemann

12 Tage

24.07.2018 11:27

Regie: Raymond Depardon; Frankreich 2017 (Grandfilm); 87 Minuten; seit 14. Juni im Kino

»Der Weg zum wahrhaftigen Menschen führt über den Irren.« Ob man in der niederschmetternden Doku, die mit diesem Foucault-Zitat beginnt, einen flüchtigen Blick auf den »wahrhaftigen Menschen« werfen kann, liegt im Auge des Betrachtenden – zweifellos fühlt man sich bei Einsetzen des Abspanns am Ende eines langen Weges angekommen.

»12 Tage« besteht zum großen Teil aus Aufnahmen improvisierter Gerichtsverfahren in einer Lyoner Psychiatrie; in Frankreich muss jeder Zwangseingewiesene innerhalb von zwölf Tagen einem Richter vorgeführt werden, der über die weitere Behandlung (man könnte auch sagen: Inhaftierung) entscheidet. Durchbrochen werden diese intensiven Dialoge zwischen den immer gleichen drei Parteien – Richter, Patient und Anwalt – von ruhigen, aber beklemmenden Kamerafahrten durch die Klinik, unterlegt mit Alexandre Desplats hervorragendem Score.

Die Protagonisten, deren Namen Regisseur Raymond Depardon geändert hat, könnten kaum unterschiedlicher sein: eine Frau, die ruhig und klar sagt, dass sie einfach nur sterben möchte; ein älterer Mann, der Stimmen hört und selten versteht, was um ihn herum passiert; ein zunächst gefasst wirkender Langzeitpatient, der verlangt, dass man seinen Vater informiert – später stellt sich heraus, dass er den Vater vor Jahren ermordet hat. Eines aber haben sie alle gemeinsam: Die Richter und Richterinnen »verurteilen« sie zum weiteren Verbleib in der Klinik (nur einen Fall will der Richter erst nach längerer Bedenkzeit entscheiden). Der Film enthält sich einerseits eines moralischen Urteils über diese oft kafkaesk und surreal anmutende juristische Praxis; andererseits scheint Depardon vor allem mit dem letzten Gespräch, in dem eine verzweifelte junge Mutter darum bittet, ihre Tochter wiedersehen zu dürfen, auf die Willkür des psychiatrischen Systems hinzuweisen.

So macht dieser großartige Dokumentarfilm die Mechanismen eines sonst verborgenen bürokratischen Apparats sichtbar, der in einem unscheinbaren Krankenhauszimmer darüber entscheidet, ob ein Mensch der Gesellschaft angehören darf oder nicht. Problematisch bleibt nur die Frage, inwieweit die teils schwer verwirrten Patienten ihr Einverständnis geben konnten, gefilmt zu werden.                    

Tim Lindemann