Kosmosaus Kraut

Zwischen analogem Futurismus und sozialistischem Alltag: Was bleibt von der »Sattelzeit« des deutschen Pop zwischen 1968 und 1982? Von Barbara Eder

Wenn Germanistenseminare sich dem Populären zuwenden, bleiben die Annäherungsversuche oft ungelenk. Die Ambition, musikalisches Nachkriegsgeschehen auf deutschen Bühnen zu erkunden, endet nicht selten in Songtextexegesen, die sich selbst zu genügen scheinen. Eine hermeneutische Herangehensweise allein offenbart noch kein Protestpotential. Vielleicht haben die Herausgeber der mit 18 Aufsätzen bestückten Anthologie Protestpop und Krautrock deshalb so großzügig Anleihen bei den britischen Cultural Studies genommen – aus dem veränderten Fokus heraus gelingt es ihnen, immer wieder bescheidene Anflüge von Subversion zu orten.

Mit modifiziertem Begriffsbesteck und ethnografischer Distanz haben sich Markus Joch, Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser auf vermintes Gebiet begeben. Ihr Gegenstand: die kurze und vergebliche Hoffnung, dass Populärmusik, made in Germany, mehr sein könnte als eine Fußnote zum angelsächsischen Original. Das Ergebnis ist eine Vermessung jenes Unvermögens, welches am Rio-Reiser-Platz in Berlin-Kreuzberg beginnt. »Es stimmt, Rio Reiser war keine Frau«, zitieren die Herausgeber die frühere Kulturstaatsministerin (und noch frühere Managerin von Ton Steine Scherben), Claudia Roth, im Vorwort. Sie bereicherte damit die Diskussion um die Neubenennung des Heinrichplatzes im August 2022. Mit dem Gegenteil hätte Rio Reiser vermutlich kein Problem gehabt. »Meine Väter sind schwarz und meine Mütter sind gelb, meine Brüder sind rot und meine Schwestern sind hell«, heißt es in seinem Song »Mein Name ist Mensch« von 1971. Die Herausgeber verbuchen dies als Bekenntnis zu einer Diversitätskultur, die ihre Ursprünge anderswo hat.

Folgt man Diedrich Diederichsen, dann stehen Ton Steine Scherben am Zenit der von ihm konstatierten »Sattelzeit«. Als historische Übergangsphase kennt die von 1968 bis 1982 dauernde Periode keinen Höhepunkt und steht doch für eine Zäsur: Krautrock, Protestpop und Neue Deutsche Welle (NDW) markieren diesen Moment – ausgehend von einem imaginären »Nicht-Drüben«. Wer sich auch im anderen, sozialistischen Deutschland nicht zu Hause wähnte, fand hier einen Zufluchtsort – oder brach im Kopf zum »Kosmos« auf. Neben diesen beiden Territorialitäten nennt Diederichsen noch das »Ausland« – berechtigterweise: Wer etwa erinnert nicht Paul Wellers ungeschönten Arbeiterklasseakzent, der in Songs wie »Saturday’s Kids« oder »That’s Entertainment« lyrische Sozialreportagen aus südostenglischen Arbeiterstädten untermalt? Oder die politische Poetik von The Style Council, die mit »Walls Come Tumbling Down« den Protest während des Bergarbeiterstreiks tanzbar machte? Pop, made in Britain, gelang es, die Thatcher-Regierung offen zu attackieren und doch soulful zu sein – der Widerspruch zwischen Feiern und Streiken schien aufgehoben.

Vorbilder wie diese erschweren es, sich abzustoßen. Die deutsche Antwort darauf war rabiat: Nachdem Ton Steine Scherben das freie Menschsein besungen hatte, mussten ihre Nachfolger feststellen, dass mitten im Industriegebiet kein Platz für romantische Schreikrämpfe mehr war. Keine Empörung, keine Emotion, kein Hüftschwung – der Sound der Düsseldorfer Synthetikformation Kraftwerk folgte nicht ironiefrei dem Takt der Fließbänder, auf denen die BRD ihre Kühlschränke, Karrieren und Kanonen fertigen ließ. Während Rio Reiser von Liebe und Revolution träumte, tickte bei Ralf Hütter schon der Zeitzünder des Atomsprengkopfes. Von der deutschen Autobahn ist es nicht weit zum Pop-Nationalismus – diese Gewissheit erschüttert Florian Völkers Text über die Düsseldorfer Kältepriester keineswegs. Der Autor will Kraftwerk nicht als »deutschen Beitrag zum Pop« eingemeindet wissen – und spricht doch von einer »Betonung des Widerstands gegen den vermeintlichen angloamerikanischen ›Kulturimperialismus‹ bei gleichzeitiger Präsentation einer vermeintlich spezifisch ›deutschen‹ Musik«.

Im Gegensatz zum frei mäandernden Krautrock der frühen Siebziger steckten die deutschen Politbands der achtziger Jahre in einem trostlosen Repertoire aus agitatorischer Holzschnittlyrik und musikalischer Magerkost fest. Deklamierte Utopien stießen auf Krautrock-Relikte, durchdrungen von einer typisch deutschen Mischung aus Selbstmitleid und Größenwahn. Der »kosmische Jam« als Fluchtpunkt derer, die den Marsch durch die Institutionen mit dem ersten Takt abbrachen, erweist sich als Splitter einer nie realisierten Möglichkeit.

»Drüben« sang es sich zur selben Zeit nicht viel besser. Michael Rauhut zufolge tobte der politische Kampf in der DDR auf anderen Ebenen. Das östliche Deutschland – mit seiner staatlich gelenkten Kulturindustrie – erwies sich als Sonderzone für subtile Sprachverschiebungen. Auf ihrem Album »Mont Klamott« von 1983 etwa brachte die Rockformation Silly so viel Polysemie in ihre Lyrics, dass die Aufpasser im Kulturministerium zuerst applaudierten – und dann den Bandmitgliedern bis zu siebzehnmal unterschiedlich zensierte Versionen vorlegten.

Was also hatte die »Sattelzeit« der deutschen Musikproduktion zu bieten? Krautrock: Eskapismus durch Auflösung der Songstruktur, Tonbandschleifen und schroffe Lyrics von der Stange. Agitpropformationen wie Floh de Cologne: die Hoffnung, dass politische Parolen doch noch über ängstlich gewienerte Akkorde hinweghelfen können. NDW: die vollständige Kapitulation – Ästhetik ohne Ethik, Pop als subversive Affirmation. Dass das Buch stellenweise versucht, dieses Trauerspiel in einen »internationalen Kontext« einzufügen, erscheint wie ein Akt der Verzweiflung. »Hurra die Welt geht unter« von K.I.Z. als »deutscher Beitrag zur globalen Popgeschichte«? Diederichsens Einsicht, dass es Songs wie diese nicht wegen, sondern trotz Deutschland gibt, hätte allen Beiträgen im Band vorausgehen müssen. Am Ende bleibt der schale Eindruck von einer Musik, die in ihren besten Momenten Anlauf nahm, um weit zu springen – und doch »daheim« landete.

Markus Joch, Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser (Hg.): Protestpop und Krautrock. Band 18 der Reihe Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. J. B. Metzler (Springer Nature), Heidelberg 2024, 322 Seiten, 59,99 Euro

Barbara Eder schrieb in konkret 4/25 über die TV-Serie »Euphoria«