»Ein Mord, 49 Millionen Tatverdächtige«

Das Attentat auf einen führenden Versicherungsmanager entblößt den Klassencharakter der US-amerikanischen Gesellschaft. Von Matthias Becker

Hat Luigi Mangione eine politische Tat begangen, als er Anfang Dezember Brian Thompson erschoss, den Vorstandschef der Krankenversicherung UnitedHealth? »Diese Parasiten haben es nicht anders verdient«, notierte der Täter in einem Collegeblock, den die Polizei bei seiner Verhaftung wenige Tage später sicherstellte. Darin bringt er seine Frustration über den Zustand des Gesundheitswesens in den USA zum Ausdruck und seinen Hass auf die Versicherungsbranche. »Diese (unleserlich) sind einfach zu mächtig geworden, und sie machen weiter damit, unser Land für ihre immensen Gewinne zu missbrauchen, weil die amerikanische Öffentlichkeit sie damit durchkommen lässt.«

Zum Opfer wurde Brian Thompson, weil es sich bei seinem Unternehmen um die größte private Krankenversicherung handelt. Mangione, der selbst nicht bei UnitedHealth versichert war, reiste zu deren Jahresversammlung in New York, lauerte dem Manager auf und erschoss ihn. Die anschließende Flucht, die belastenden Indizien im Rucksack, all das wirkt, als hätte Mangione überhaupt keine Pläne für die Zeit danach gemacht.

In die Patronenhülsen hatte er, sozusagen als Bekennerschreiben, die Schlagworte deny, delay und depose geritzt. Sie stehen für gängige Geschäftspraktiken der Krankenversicherung, mit denen sie ihre Ausgaben drückt. In seinen Aufzeichnungen heißt es: »Die USA haben das teuerste Gesundheitssystem der Welt, aber wir stehen ungefähr auf Platz 42 bei der Lebenserwartung.« Geradezu treuherzig fährt er fort: »Natürlich ist das Problem komplexer, aber ich habe keinen Platz. Offen gesagt, ich behaupte nicht, dass ich die geeignetste Person dafür bin, um eine vollständige Begründung zu liefern.«

Nach einer Tat wie dieser richtet sich das Interesse unvermeidlich auf die Motive und die Vorstellungswelt des Täters. Aber Mangione und seine Beweggründe sind weniger wichtig als die Reaktion, die er auslöste. In den Sozialen Medien und Kommentarspalten begannen unzählige Gespräche über die eigenen Erfahrungen mit den Krankenversicherern. Zehntausende berichteten von verweigerten Dialyse-Behandlungen, von Chemotherapien, die aus Kostengründen abgebrochen werden mussten und davon, dass sie sich lebensnotwendige Medikamente wie Insulin nicht leisten können.

Natürlich ist all das der Öffentlichkeit längst bekannt. UnitedHealth lehnte im Jahr 2023 schätzungsweise ein Drittel aller Anträge auf Kostenübernahme ab, bei 49 Millionen Versicherten. Die meisten Amerikaner zahlen Beiträge und leben trotzdem in der ständigen Gefahr, durch eine Erkrankung erwerbslos zu werden und dann sozial abzustürzen. Eine unbezahlbare Rechnung für medizinische Behandlungen ist der zweithäufigste Grund für Überschuldung. Die Umsätze und Profite der privaten Krankenversicherung sind dagegen seit der Reform unter Barack Obama 2010 erheblich gewachsen, vor allem im staatlich subventionierten Medic-aid-Sektor.

So kann es niemanden wundern, dass nur wenige Amerikaner Brian Thompson nachweinten. »Nach diesem Mord kommen 49 Millionen Tatverdächtige in Frage«, sagte ein linker Gesundheitsexperte. Bei Umfragen gaben Mehrheiten dem Opfer eine Mitschuld. Viele freuten sich klammheimlich, manche lautstark.

Die staatliche Reaktion auf das Attentat zerstört etwaige letzte Illusionen über eine Gleichheit vor dem Gesetz. Um Mangione zu verhaften, bildete die Polizei eine eigene Fahndungsgruppe, druckte Plakate und lobte eine hohe Belohnung aus. Die Gouverneurin des Staates führte Gespräche mit dem leitenden Management von 175 Großkonzernen, um auf die »besonderen Sicherheitsbedürfnisse dieser besonderen Gruppe von Personen einzugehen«. Unterdessen wurde in Florida eine Frau verhaftet, weil sie bei einem Telefongespräch mit ihrer Krankenversicherung die Worte »deny, defend, depose« benutzte, und erst nach einer Kautionszahlung von 10.000 Dollar wieder freigelassen.

Nun wird Mangione nicht nur als Mörder, sondern auch als Terrorist angeklagt, weil die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Haft erreichen will. Der entsprechende Gesetzestext spricht allerdings von Verbrechen mit dem Ziel, »die Zivilbevölkerung in Angst zu versetzen und einzuschüchtern«. Die »New York Times« warnte, Mangione werde bereits als Volksheld gefeiert und der Terrorismusvorwurf könne den politischen Aspekt weiter in den Vordergrund rücken: »Die Staatsanwaltschaft könnte so die Kritik am amerikanischen Gesundheitssystem noch verstärken, die Herrn Mangione so beunruhigend populär gemacht hat.« Tatsächlich stehen zahlreiche Devotionalien im Angebot, von der Kaffeetasse bis zum T-Shirt. Die Spendenbereitschaft für Mangiones Verteidigung ist groß.

Die massenhafte Begeisterung für den »einsamen Rächer«, der schurkische Manager »zur Rechenschaft zieht«, hat etwas Un-, zumindest Vorpolitisches. Die Sympathie für Mangione überbrückt Parteigrenzen: Viele seiner Unterstützer dürften bei den letzten Wahlen für Donald Trump gestimmt haben, dessen »Kabinett der Milliardäre« angekündigt hat, die Reste einer bezahlbaren und allgemeinen Krankenversorgung zu privatisieren.

So wirft der Fall ein ernüchterndes Licht auf die politische Lage in den USA. Trotz zahlreicher Streiks und Aktionen von sozialen Bewegungen gelingt es nicht, politische Erfolge zu erzielen, die die Lage der Lohnabhängigen verbessern. Der Versuch einiger Sozialisten, die Demokratische Partei nach links zu steuern, ist gänzlich gescheitert. Ein Beleg dafür ist, dass die drängende Frage der Gesundheitsversorgung im letzten Präsidentschaftswahlkampf überhaupt keine Rolle spielte. Wo eine sozialistische Politik fehlt, drückt sich der Klassenhass in brutalen und ungenauen Formen aus. Dann bleibt als einzig glaubwürdiger Gleichmacher die Schusswaffe.

Von Matthias Becker erscheint dieser Tage das Buch Bodenlos – Wer wird die Welt ernähren?, eine Kritik der kapitalistischen Landwirtschaft (einschließlich der biodynamischen)