Liberal, illiberal, scheißegal

Österreich bekommt einen »Volkskanzler«, um die multiplen Krisen autoritär zu managen. Von Bernhard Torsch

Die österreichische Bourgeoisie hatte keinen großen Plan, als sie die Schlüssel zum Kanzleramt einem Rechtsextremisten in die Hand drückte. Ihr einziges Anliegen war, dass die Kreditoren der Staatsanleihen, die nun auf Rückzahlung dringen, nicht von ihnen, sondern ausschließlich vom Prekariat bedient werden.

Nach 15 Jahren, in denen die konservative ÖVP den Finanzminister stellte, hat Österreich nämlich ein Budgetdefizit von fast 20 Milliarden Euro angehäuft. ÖVP, Neos und FPÖ sind sich darin einig, dass der Staatshaushalt mit einer strengen Austeritätspolitik im Stil von Javier Milei zu sanieren sei. Daher tat man 96 Tage lang so, als würde man verhandeln, bevor die Neos-Chefin Beate Meinl-Reising vor die Presse trat und sagte, mit der SPÖ sei leider keine Koalition zu machen. Am Tag danach warf auch die ÖVP hin und sich sowie das ganze Land der extremen Rechten in die Arme.

Die Sache ging schief, weil die Sozialdemokraten zwar wie gewohnt allen Forderungen der Kapitalparteien nachgaben, aber bis zum Schluss verzweifelt um eine symbolische Geste bettelten, mit der eine Art volksgemeinschaftlicher Spar-Schulterschluss simuliert werden sollte. ÖVP und Neos warfen einen kurzen Blick auf den Zustand der österreichischen Arbeiterbewegung und der ehemaligen Arbeiterpartei SPÖ und lehnten ab. Mutmaßlich wurde ohnehin nur verhandelt, um später einer eventuell gegen den von ÖVP und FPÖ in Angriff genommenen sozialen Kahlschlag protestierenden SPÖ ausrichten zu können, ähnliches habe man doch bereits mit ihr ausgehandelt.

Medial und propagandistisch begleitet wurden die 96 verschwendeten Tage der Koalitionsverhandlungen von einer lächerlichen Dämonisierungskampagne gegen die Sozialdemokratie. Hatte man SPÖ-Chef Andreas Babler schon zuvor mit der normale Menschen nicht aufregenden, in Österreich aber zutiefst beleidigend gemeinten Bezeichnung »Marxist« belegt, steigerte sich der Hass der Konzernmedien und der politischen Rechten auf diesen biederen Sozialdemokraten mit jedem Verhandlungstag, bis er schließlich als eine Art blutdürstiger maoistischer Irrer galt, ein Abimael Guzmán der Alpen, ein linksextremer Wahnsinniger, der sich verbotener Begriffe wie »Inlandsnachfrage« oder »Übergewinne« bediente. Der Hass einflussreicher Kreise bei ÖVP und Neos, aber auch innerhalb der SPÖ auf Babler brach sich täglich Bahn. Da war einer, der offensichtlich wusste, wie der Kapitalismus funktionierte, und der trotzdem noch kein korrupter Multimillionär geworden war. Das war höchst verdächtig, ja geradezu, um die Sprache derer, die jetzt herrschen werden, zu verwenden, »abartig«.

Es wird jetzt eine kleine dialektische Herausforderung gerade für bürgerliche Leser/innen werden, aber: Nur weil etwas schlimmer wird, war es zuvor nicht gut. Wenn der Autoritarismus in einem Land nach dem anderen die liberale Demokratie verjagt, wird es für sehr viele Menschen objektiv unangenehmer und gefährlicher, aber wer meint, bislang herrschten paradiesische Zustände und die würden nun abrupt enden, hat diese liberalen Demokratien noch nicht von unten gesehen oder gar erlebt. Nehmen wir Kanada. Unter Trudeau, in den viele Linksliberale geradezu verliebt waren, weil er so progressiv in Sachen LGTBQ+ war, wurden 60.000 kranke und behinderte Menschen eingeschläfert wie Hunde. Das kanadische Euthanasieprogramm, das man zynischerweise MAID nannte, wurde kranken und armen Menschen von eben jenen Politverbrechern als »Ausweg« angedient, die die Armut dieser Menschen und oft auch deren Krankheit zu verantworten hatten. Sogar die Uno meinte, Kanada treibe es ein bisschen zu wild mit dem Umbringen seiner Schwächsten.

Auch in Europa haben nicht die Faschisten die Einteilung in lebenswertes und lebensunwertes Leben zurückgebracht, sondern die liberalen, sozialdemokratischen und moderat konservativen Regierungen in den Niederlanden, in Belgien und der Schweiz. In der Tat illustriert nichts so perfekt die völlige ideologische und moralische Verwahrlosung des linksliberalen, oft genug auch linken Spektrums wie die seit den achtziger Jahren leidenschaftlich geführten Kämpfe dieses Spektrums für die Legalisierung der Todesspritze. Nicht zufällig ging dieser Verrat an Menschen mit Behinderungen und Krankheiten, deren Proteste und Warnungen man einfach nicht hören wollte, mit dem Abstieg der Linken zu neoliberalen Lifestyle-Progressiven einher, deren Analysefähigkeit sich rasch darauf beschränkte, die Körper der Anhänger/innen der rechten Demagogen hässlich und deren Modevorlieben grässlich zu finden.

Mit dem, so das von der FPÖ selbst verwendete NS-Vokabular, »Volkskanzler« Kickl, den Österreich nun höchstwahrscheinlich bekommen wird, mit Trump und Meloni, Fico und Farage, Merz und Weidel und all den anderen rechtsautoritären Postdemokraten kommen die Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften zu ihrer absurden Vollendung. Um die Welt, die nun endet, ist es aber nur in direkter Relation schade. Sie war mit ziemlicher Sicherheit besser als die, die jetzt kommt, aber sie war eben auch eine, in der allein im Jahr 2024 wieder 20.000 Menschen elend im Mittelmeer ertranken beim Versuch, das sich zunehmend abschottende Europa zu erreichen, in dem Zehntausende allein 2024 in einem Krieg mitten in Europa verreckten und in der die Nachricht, dass die Klimakatastrophe näherrückt, nur Achselzucken bewirkt und bei jedem entsprechenden Beitrag in den Sozialen Medien Abertausende Totlachsmileys provoziert.

Bernhard Torsch schrieb in konkret 12/24 über das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Staatsräson