Falsche Vertraulichkeit
Der Roman Immer wenn ich dieses Lied höre von Lola Lafon nimmt das Schicksal Anne Franks zum Anlass für unerträglichen Kitsch. Von Thomas Schaefer
Als »berührend« lobten erste Reaktionen des deutschsprachigen Feuilletons Lola Lafons Buch Immer wenn ich dieses Lied höre, und das dürfte genau die Wirkung sein, welche der französischen Autorin vorgeschwebt hatte, als sie auf die kühne Idee gekommen war, eine Nacht im Anne-Frank-Haus zu verbringen. Also in jenen Räumen in der Amsterdamer Prinsengracht, in denen die vierköpfige Familie Frank sowie vier weitere Personen sich auf engstem Raum vor den Nazis versteckten, bevor sie verraten und deportiert wurden. Getreulich referiert Lafon die Geschichte Anne Franks und ihres berühmten Tagebuchs, erzählt, wie das Haus zum Museum wurde, und leitet aus der Verfolgungsgeschichte ihrer eigenen jüdischen Familie ihre Motivation ab, »im Versteck von Anne Frank« zu nächtigen, »um den Raum am eigenen Leib zu spüren«. Dabei ist ihr durchaus bewusst, was für ein Ausmaß an Projektionen die Anne-Frank-Rezeption aufweist, ja, sie stilisiert sich selbst als »die, der die Romantisierung der Schoah unerträglich ist«.
Dabei ist diese Romantisierung exakt ihre Sache, was im Grunde schon in der Idee angelegt ist, durch einen Aufenthalt in den historischen Räumen eine Nähe herzustellen, die sich per se verbietet. Ob die Räume nun leer sind oder rekonstruiert wären: Es ist selbstverständlich, das sich kein Mensch in die Lage eines Mädchens versetzen kann, das mehr als zwei Jahre lang auf engstem Raum leben und sich still verhalten muss, rund um die Uhr der Angst vor Entdeckung, Vertreibung, Lager, Tod ausgesetzt. Lafon macht es dennoch. Sie erhöht sich selbst auf unerträgliche Weise: »Ich war so nahe bei ihr, dass ich nicht mehr Anne Frank sah, sondern einen Menschen namens Anne.« Das alles ist nicht nur anmaßend, das hohle Pathos instrumentalisiert nicht nur die Shoa in einer auf Affekte abzielenden Weise, es ist: Kitsch. Angesichts von Sätzen à la »Anne Franks Ich spiegelt alles wider, was uns gehört und was sie verloren hat: das Tageslicht, die Brise, die blendende Sonne und die unendliche Schwärze des Unsichtbaren zwischen den Sternen« kann man der Autorin nur in einem recht geben: »Ich bin nicht die, die dieses Buch schreiben sollte.«
Lola Lafon: Immer wenn ich dieses Lied höre. Im Versteck von Anne Frank. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Aufbau, Berlin 2025, 173 Seiten, 22 Euro