Des geht sie scho aus!

Großartiges neben Kleinkalibrigem: Als Dichter hat Georg Kreisler zwar zu Recht Selbstzweifel gehabt, aber sich stets die Geste des freien Geistes bewahrt. Von Marco Tschirpke

Die ständige Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschreibsel ist schwer zu ertragen, so unzufrieden mit seiner Arbeit ist kein Rechtsanwalt, kein Arzt, kein Maurer, kein Tischler.« Dieser Satz aus dem Vorwort des pointierten Zweiflers Georg Kreisler zu seinem Gedichtband Zufällig in San Francisco nimmt einen Eindruck vorweg, den die Lektüre seiner Verse ebenso erzeugen kann – und soll. Zum Glück wissen wir um die immensen Verdienste des charmanten, zerrissenen, zänkischen Alten.

»Ein Kritiker hat mich bezeichnet als Kabarettisten!« Und tatsächlich umreißt der Begriff »Kabarett« nicht entfernt das Spektrum des augenzwinkernden Schwarzsehers. Der ungereimten Kleinschreibungslyrik abhold, spannt Kreisler seine Themen weit (und manchmal breit) über den Ozean. Dieser durch und durch säkulare Österreicher mit jüdischen Wurzeln, der vor den Schergen eines anderen Österreichers in die USA emigrierte (unfreiwilliger Transatlantiker!), hat eine Menge im Rucksack: die Nüchternheit des Weitgereisten, den bitteren Humor des Ausgegrenzten, die souveräne Geste des freien Geistes. Ein zuverlässiger Parteigenosse ist er nicht und will er nicht sein. Sein Publikum sieht sich in ihm wie in einem Zerrspiegel. Die desillusionierte Bürgerlichkeit artikuliert sich in Kreisler in mehr als ihrer Befindlichkeit: Die Zeitläufe haben ihre Wunden in den Künstler geschlagen. Auf kein Pferd zu setzen, scheint ihm die beste Option.

»Mir tut jedes Gedicht, das ich geschrieben habe, ein bißchen leid, denn nichts wird so unhöflich abgefertigt wie ein Gedicht.« Darauf folgt eine unhöfliche Abfertigung von Karl Kraus, der »in seiner grenzenlosen Eitelkeit und Selbstüberschätzung auch fragwürdige Gedichte geschrieben« habe. Nun, sein amerikanischer Kollege Tom Lehrer wüsste selbiges über Kreisler zu sagen. Bereits die schöne Stabreimerei des Originaltitels »Poisoning Pigeons in the Park« weist allein T. Lehrer als den Urheber aus. Wie sollte Kreisler ahnen, dass ausgerechnet ein Kuckucksei sein Signature song werden würde? Bar jeden handwerklichen Mangels, findet sich Großartiges neben Kleinkalibrigem, abgezirkelt Konzises neben wild Assoziiertem. Und nicht selten – wie hier in der Schlussstrophe des Gedichts »Die Maschine« – taucht sie auf, die verschmitzt vorgetragene Sorge, dazuzugehören:

Sie sind Professor und Soldat,
Equilibrist und Demokrat,
und sie besitzen ein Mandat
als Konkubine.
Und eines Tages, fürchte ich,
entdeckt man mich versehentlich
und kommt hierher und schleudert mich
in die Maschine.

Was sich, nebenbei, von Kreisler lernen lässt, ist die Fertigkeit, nach dem Erfolg zu schielen, ohne betriebsblind zu werden. Der Mann konnte den Opportunismus auf den Tod nicht ausstehen, auch wenn er sich ihm bisweilen lieber durch Flucht entzog als zu widerstehen.

In der Mitte des Buchs steht ein »Zwischenwort«, das fast allein die Neuveröffentlichung (das Werk erschien erstmals 2010) rechtfertigt. Denn es entfaltet ein ganzes Tableau gedichteter Kriegshetze aus dem Jahr 1914. Der militaristische Schund aus den Federn von Richard Dehmel, Alfred Kerr, Gerhart Hauptmann und Thomas Mann bildet nur den Auftakt zu einer Sinfonietta der Widerwärtigkeiten: »Auch die fortschrittlichen Komponisten Schönberg, Berg und Webern, die vom österreichischen Staat nur Missachtung und Ablehnung erlebt hatten, ja sogar der Psychiater Sigmund Freud waren damals kriegsbegeistert, und unter anderem gab es auch ein schreckliches ›Manifest‹, das zum ›Daseinskampf‹ aufrief und von etlichen Künstlern, beispielsweise Max Reinhardt, Siegfried Wagner, Engelbert Humperdinck und auch Max Planck unterzeichnet wurde.«

Wir erinnern uns heute ganz ähnlicher Manifeste, unterschrieben von Autoren wie Daniel Kehlmann, Herta Müller, Maxim Biller, Wladimir Kaminer, Ilko-Sascha Kowalczuk, Sascha Lobo, die mehr und mehr Waffen für die Ukraine und gegen Russland fordern. Zumindest in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit sind das ja auch Künstler. Und sie dürfen irren, selbstverständlich. Aber es macht einen Unterschied, ob sich mein Installateur hinsichtlich der Steigung eines Gewindes irrt oder ob ein Mensch mit Öffentlichkeit eine Schraube locker hat. (An dieser Stelle seines Buchs übrigens hätte Kreisler Gelegenheit gehabt, Karl Kraus wieder ins rechte Licht zu setzen – der nicht nur der konsequenteste Antimilitarist der damaligen Zeit, sondern auch jener Mann war, ohne dessen »Fackel« Kreisler wohl kaum gewusst hätte, wer sich 1914 alles zum Kriegsnarren gemacht hatte.)

Kreisler, seltsam genug, fühlt sich der Aufklärung nicht verpflichtet. Zumindest behauptet er: »Ich persönlich fühle mich im Dunklen des Mythos wohl, im Licht zerrinnt alles.« Schreibt einer, der als Aufklärungsoffizier der US-Armee ins besiegte Hitlerdeutschland zurückkehrte, um Nazigrößen wie Julius Streicher und Ernst Kaltenbrunner zu verhören.

Dass die Gedichte Georg Kreislers auf den ersten Blick seinen Liedern nicht das Wasser zu reichen scheinen – wen wundert’s? Muss man sie doch selber lesen und richtig betonen. Wer kann das schon?! Mit seinem zu Kunst amalgamierten Dagegen (gegen alles Staatliche, Systemische, Hierarchische) war und ist er anschlussfähig für die linke Mittelschicht. Vorteil des gutgekleideten Anarchisten: Auch das bürgerliche Publikum, wenn es auf sich hält, hält ihm die Stange. Wenn es seiner Unterhaltung dient, wusste Kreisler, ist es zu jedem Missverständnis
bereit.

Georg Kreisler: Zufällig in San Francisco. Unbeabsichtigte Gedichte. Neuausgabe. Verbrecher-Verlag, Berlin 2025, 128 Seiten, 22 Euro

Marco Tschirpke schrieb in konkret 9/24 über den A.-und-O.-Alltag