Historischer Stuss
Florian Sendtner über geschichtsvergessene Kompromissbereitschaft im Bundestag
Kaum einer der insgesamt 45 Redner der letzten Debatte des 20. Bundestags versäumte es, die anstehende Abstimmung über die Möglichkeit der fast schrankenlosen Kreditaufnahme »historisch« zu nennen. Drei Jahre lang hatte Friedrich Merz den strengen Sparkommissar gegeben und der Ampelregierung jede Lockerung der Schuldenbremse mit Aplomb verweigert; nun, da er mit Hilfe der Sozialdemokraten Kanzler werden sollte, zauberte er noch mit dem alten Bundestag am 18. März 2025 mit freundlicher Unterstützung der Grünen mal eben eine Billion aus dem Hut – wahrlich ein »historischer« Tag.
Nur ein Redner setzte noch eins drauf und sprach davon, man müsse »in historischen Zeiten einen historischen Kompromiss« eingehen: SPD-Chef Lars Klingbeil. Und keiner der noch folgenden 37 Redner in der noch über vier Stunden dauernden Debatte ging darauf ein. Kein Wunder. Bis auf eine Handvoll Linker wird niemand im Hohen Hause gewusst haben, welchen Begriff der SPD-Vorsitzende da gerade bemüht hatte, er selbst schon gar nicht.
Dabei ist es durchaus hilfreich, sich kurz an den realhistorischen Historischen Kompromiss zu erinnern, der vor einem halben Jahrhundert in Italien fünf Jahre lang heftig diskutiert und nur ansatzweise realisiert wurde, bevor er sich mit einem Knall in Luft auflöste: eine strategische Zusammenarbeit zwischen der Italienischen Kommunistischen Partei unter Enrico Berlinguer – von dem die Idee stammte – mit anderen Parteien, vor allem der Democrazia Cristiana, bei der Aldo Moro für den »compromesso storico« plädierte. Der 1978 von den Roten Brigaden entführte und ermordete Erzkatholik und Papstfreund Moro war, gemessen an solchen Früchtchen wie Lars Klingbeil, ein regelrechter Kommunist.
Dass die SPD ihre Zustimmung zum Billionen-Kredit, der Friedrich Merz im Gegensatz zu seinem sozialdemokratischen Vorgänger vier sorgenlose Jahre im Kanzleramt bescheren wird, als »historischen Kompromiss« verkaufte, zeigt, wie sich alles ins Irreale und Irre verschoben hat. Der nächste wird dann wohl mit der AfD geschlossen, die sich derweil genüsslich zurücklehnt und die CDU/CSU/SPD-Regierung in bester Trump-Manier schon vorab als »links-grünes Kartell« schmäht.