Attacca con fuoco
Stradivari-Violine versus Kalaschnikow-Schießprügel – ein disharmonischer Vergleich von Ulrich Holbein
An jedem Horizont mehren sich Einschläge. Hing irgendwann mal ein Himmel voller Geigen? Stell dir vor, da geigt wer, und keiner hört zu. Stellt euch vor, es ist Krieg, und jeder geht hin. Wo man schießt, da mach dich aus dem Staub. Wo es knallt, da wirst du taub. Wo man fiedelt, lass dich ruhig nieder – böse Menschen haben keine Lieder. Oder grölen halt trotzdem. Beide, das herzlose, hirnlose Tollhaus des Universums wie sogenannte Hochkultur, brauchen jeweils ein Instrument, um loslegen zu können. Wer nichts in der Hand hat und keiner Steckdose hinterherhastet, kommt nicht weit. Geige und Gewehr – beide sollten gut in der Hand liegen. Menschlicher Erfindergeist folgte je einer Vision. Beide Geräte haben nichts dagegen, sich instrumentalisieren zu lassen. Kein Geiger, ohne Geige, vermag zu geigen. Kein Bewaffneter, ohne Waffe, kann Unbewaffnete und Bewaffnete umlegen. Keiner, ohne Bein, kann das Humpeln lassen. Bei geringsten Fingerverletzungen lässt sich kein Fingersatz mehr richtig durchführen. Falls Musiker zu wenig Liebe zur Musik fühlen, spielen sie nicht so gut. Falls Soldaten zu wenig Hass auf Feinde fühlen, schießen sie daneben. Wer das Ziel nicht trifft oder seinen Einsatz verpatzt, hat nicht genug geübt. Standing ovations erfolgen nur, wenn man das Herz rührt oder ins Herz trifft.
Fechten’s Enkel besser aus, spieltechnisch und kriegstüchtig? Stradivari zeugte sechs Kinder. Stradivaris und Kalaschnikows Söhne Omobono, Francesco und Viktor betätigten sich gleichfalls als Geigenbauer beziehungsweise als Waffenkonstrukteure. Früh übt sich, wer Wunderkind und Meister werden will. Kinderpistolen und Bonsai-Geigen reiten und geigen voran. Stradivari fing als Schreiner an. Kalaschnikow fing als Techniker und Panzerkommandant an. Am Drücker sitzen dann aber, statt Wundergreisen, Tattergreise. Stradivari baute noch im Alter von Joe Biden (82) Geigen. Die früher gebauten klangen besser.
Wie heißt der berühmteste Italiener? Dante Alighieri? Casanova? Leonardo da Vinci? Franz von Assisi? Michelangelo? Cäsar? Sicher keinesfalls Berlusconi, Orlando di Lasso, Verdi oder Monteverdi. Wie heißt der berühmteste Russe? Stalin, Tolstoi – Lenin? Rasputin, Puschkin – Putin? Sicher keinesfalls Tschechow oder Turgeniew. Wer wurde berühmter – Fellini, Tarkowski oder Pasolini? Raffael wird auch außerhalb Italiens abgöttisch bewundert. Nicht nur Russland schießt mit Kalaschnikows.
Man könnte die genialen Hersteller Wohltäter nennen. Beide lösen Tränenfluten aus, bei den Eltern gefallener Hoffnungsträger und bei allen, die Klassik nicht verschmähen und sich, gelegentlich, für eine schöne Melodie wegschmeißen könnten. Kalaschnikow befreit sein Volk von Feinden, das ihm dafür die Hände küsst. Wer lieber Rammstein mag, wird keinem Paganini die Hände küssen mögen. Die einen schmelzen dahin; die anderen verbluten. Sonaten und Patronen fliegen durch die Lüfte. Die Kalaschnikow kennt nur eine Spielanweisung: Staccato, nur eine Tempobezeichnung: Presto furioso, unfähig zum Adagio amoroso.
Um die Stradivarigeige webt ein Geheimnis wie ums Lächeln der Mona Lisa. Die Kalaschnikow hat ein Erfolgsrezept, kein Geheimnis. Stradivarigeigen erheben die Seele, Kalaschnikows mähen Körper nieder, samt ihren nur selten erhobenen Seelen. Stradivaris sind kostbar. Kalaschnikows sind robust. Die einen werden immer teurer (18 Millionen), die anderen immer günstiger. In Shanghai werden, für fünf Euro das Stück, Geigen gebaut.
Wenn eine Geige nur 30 Töne hätte, wäre die Musik sofort zu Ende.
Kalaschnikow und Stradivari zerren am Menschen wie Wille und Vorstellung. Kalaschnikow und Stradivari stehen sich – unverwandt? – gegenüber wie Zapfenstreich und Andantino, wie Mao und Dalai Lama, falls zweiter zum Flöten oder Geigen neigte, oder halt wie Mussolini und Iwan Rebroff beziehungsweise wie Putin und Pavarotti.
Stradivari baute circa 1.100 Geigen. 600 davon sind noch übrig. Bis dato wurden über 100 Millionen Kalaschnikows hergestellt, Tendenz: steigend – pro Jahr hagelt’s eine Viertelmillion Tote. Kalaschnikow verdrängte dies nicht. Kalaschnikow fühlte sich belastet vom dem, was er in die Welt gesetzt hatte. Die Stradivari-Bratsche »Macdonald«, angeboten für 45 Millionen Dollar, fand keinen Käufer. Der Erlös für die »Lady Blunt«, gebaut 1721, ging an Earthquake-Opfer in Japan. Stradivaris werden äußerst gern von Kalaschnikows bewacht – one world! Engführung! Die weltgrößte Stradivari-Sammlung befindet sich im Chi-Mei-Museum – doch wo? Auf Taiwan. Wahnsinn!
Viele gestohlene Stradivaris tauchten nie mehr auf. »Fiddle« heißt sowohl Geige wie betrügen.
Outete Gott sich als unmusikalisch? Gott ließ den russischen Waffenkonstrukteur länger leben als den italienischen Geigenbaumeister. Stradivari wurde 93 Jahre alt. Kalaschnikow wurde 94 Jahre alt. Gott ließ Rudolf Heß dreimal länger leben als Franz Schubert – welch Blasphemie gegen den Geist göttlicher Musik! Violoncellokästen sehen leider wie Särge aus. Geigenkästen sehen leider wie Kindersärge aus. Katzen können nicht lächeln, aber töten. Kinder lernen nicht mehr zu grüßen, zu lesen oder für Greisinnen und Opas in der U-Bahn aufzustehn. Werden sie jemals das Ballern verlernen?
Ulrich Holbein schrieb in konkret 3/25 über das Fangnei