Zum Beispiel André M.

Über den Berliner Prozess gegen einen fleißigen Verfasser neonazistischer Drohbriefe. Von Friedrich C. Burschel

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen im Zimmer des Angeklagten?«, fragt der Vorsitzende Richter am Landgericht Berlin, Thorsten Braunschweig. Der Zeuge – einer der Polizeibeamten, die die Wohnung von André M. durchsuchten – antwortet, da sei an der Wand hinter dem Bildschirm so eine Darstellung mit Totenkopf zu sehen gewesen. Braunschweig hakt nach: Ob ihm sonst noch etwas in Erinnerung geblieben sei, zum Beispiel NS-Devotionalien oder so etwas. Nein, sagt der Zeuge.

Bei der Vernehmung eines zweiten Beamten, der dabei war, werden auch Lichtbilder des spießig-idyllischen Elternhauses M.s nahe Pinneberg und der Räumlichkeiten im Dachgeschoss in Augenschein genommen, in denen der Beschuldigte bis zuletzt hauste. Kein Fleckchen an den Wänden von M.s Zimmer ist frei von Nazi-Kram: Hakenkreuzfahnen, SS-Embleme, Landser-Gemälde. Die schmalen Bücherregale sind vollgestopft mit Kriegs- und Waffenbüchern, NS-Propaganda und Weltkriegsbildbänden.

Dem 32jährigen André M. wird zur Last gelegt, über Wochen im Zeitraum zwischen Ende 2018 bis Anfang 2019 mehr als hundert Drohmails und -faxe an Politiker/innen, Antifaschistinnen und Antifaschisten, Personen des öffentlichen Interesses und Journalistinnen versandt und in gewaltvoller und sexualisierter Sprache drastische Verbrechen angedroht zu haben. Bombendrohungen erreichten zahlreiche Gerichtsgebäude, Bahnhöfe, ein Jobcenter, aber auch die von der AfD als antifaverseucht bezeichnete Ida-Ehre-Schule in Hamburg, was zum Teil zu erheblichen Störungen führte.

André M. ist bislang der einzige Drohbriefschreiber, der erwischt wurde. Die Flut von Drohschriften, die wenige Wochen nach der Verkündung des Urteils im NSU-Prozess in München einsetzte, nährte schon damals die Vermutung, dass hier kein einzelner Täter am Werk war. M. firmierte in seinen Mails als »Nationalsozialistische Offensive«, trat dann aber zunehmend im Verbund mit »NSU 2.0«, »Staatsstreichorchester« und »Wehrmacht« auf. Prompt erhielt das Landgericht Berlin am Tag der Eröffnung des Prozesses gegen M. am 21. April eine Bombendrohung. Die Sitzung musste für eine Stunde unterbrochen werden.

Seither hat es weitere Drohfaxe von »NSU 2.0« gegeben, die beim Landgericht eingegangen und gegen die Anklage erhebende Generalstaatsanwaltschaft gerichtet sind: Der Absender, der sämtliche Drohnachrichten für sich reklamiert, um damit den Angeklagten zu entlasten, droht den Prozessbeteiligten mit »Sonderbehandlung«. Die Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion, Martina Renner, die selbst betroffen ist und als Nebenklägerin im Verfahren auftritt, wendet sich gegen eine Pathologisierung und Individualisierung der Täter: »Ich möchte, dass klar wird, dass solche Drohungen nicht harmlos, die Täter digital vernetzt und teilweise seit Jahren aktiv sind. Wir müssen von Strukturen und von Zugang zu Waffen und Sprengstoff ausgehen. Es sollte darüber gesprochen werden, und nicht zuerst über den psychischen Knacks des Angeklagten.«

Das ist bei André M. gar nicht so leicht: Seine Vorgeschichte führt in eine düstere und erbarmungslose Welt, in der sich psychische Störungen, Drogen- und Medikamentenmissbrauch und Gewaltdelikte im Laufe der Jahre mit einer neonazistischen Ideologie verschränkten. Haft und ein langer Psychiatrie-Aufenthalt im Maßregelvollzug waren die Folge. Besonders schockierend sind die misogynen Gewaltphantasien, die sich vor allem gegen feministisch ausgerichtete und stark auftretende Frauen wie die Journalistinnen Anja Reschke, Margarete Stokowski und Dunja Hayali richten, aber auch – und mit besonderer Hartnäckigkeit – gegen die Schlagersängerin Helene Fischer. Wie bei Stokowski stört den Absender hier vor allem die »slawische« Herkunft.

Seit seiner Kindheit sind M.s immer aggressivere Folter- und Gewaltphantasien von diesem besonderen Frauen- und einem allgemeinen Menschenhass geprägt, für den sich M. als Selbstmordattentäter sogar zu opfern bereit erklärt. In den Drohbriefen prahlt er mit seinem Wissen über die Herstellung von Sprengstoffen, schon als Heranwachsender baute er seine ersten Bomben. M. bewegte sich immer häufiger im Darknet, kam dort in Kontakt mit seinen Komplizen, besorgte sich Bauanleitungen für Waffen. Er lernte im Internet auch Frauen kennen, mit denen er morbide Mailwechsel und Chats pflegte, die seine sadistische Seite dokumentieren. Unter den etwa 23.000 Bilddateien auf M.s Rechnern sind neben jeder Menge Nazi-Bildchen haufenweise scheußlichste Gewaltdarstellungen zu finden.

Dass aus der Fülle des Materials nur die schlimmsten Darstellungen ausgewählt und vor Gericht in Augenschein genommen wurden, ärgert den Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Thomas Penneke, sehr. Warum man denn keine der dort auch zu findenden netten Familienfotos ausgewählt habe, fragt er und vermutet, dass das Gericht schon mit der Auswahl der Bilder M. in ein schlechtes Licht rücken wolle. Angesichts der Vorwürfe und der Drastik des vorgefundenen Materials ein interessanter Verteidigungsversuch des Rostocker Anwalts, dessen eigene Vorgeschichte nicht ohne ist: Penneke habe, schreibt das »Antifaschistische Infoblatt« (»AIB« 91), selbst eine Nazi-Vergangenheit als aktiver NPD-Unterstützer und Burschenschafter. Nach einer zurückhaltenden Phase während des Jurastudiums tritt er als eine Art Szeneanwalt in Erscheinung. Das »AIB« weiter: »Seither vertritt der ... Anwalt das Who-is-who der Neonazi-Szene aus Mecklenburg-Vorpommern.«

Mit André M. tritt zum wiederholten Mal ein junger Mann als Nazi-Gewalttäter in Erscheinung, dessen erhebliche Persönlichkeitsstörungen wie bei den Tätern etwa von München, Halle und Hanau mit einer rassistischen, antisemitischen, misogynen und gegen Linke gerichteten Nazi-Gesinnung ein lebensgefährliches Amalgam bilden. Er findet in den Tiefen des Internets Gleichgesinnte, die sich von der Welt und insbesondere »den Frauen« gekränkt fühlen, und Kontakt zu organisierten Nazis. Die Vernetzungen solcher in der Isolation ihrer grottigen Jugendzimmer dahinvegetierenden, potentiellen Attentäter und ihre zunehmende Brutalisierung über von Hetze und Verschwörungswahn toxische Echokammern stellt derzeit eine der massivsten Bedrohungen von rechts dar.

Der Prozess ist bis September terminiert. Die Länge des Verfahrens ist der Schwierigkeit geschuldet, die zum Teil verschlüsselten und verschleierten Aktivitäten im Internet konkret dem Angeklagten zuzuordnen.

Unter Mitarbeit von Josefine Körmeling

Friedrich C. Burschel schrieb in konkret 5/20 über Flüchtlingsunterkünfte im Ausnahmezustand