Im Dutzend billiger

Nie war die Gelegenheit günstiger, den Führer loszuwerden: Putin ist der neue Hitler, und Deutschland weint vor Glück. Von Florian Sendtner

Dass es kaum eine Friedensdemonstration gegeben haben dürfte, auf der nicht stolz und mutig ein Putin-Plakat mit Hitler-Bärtchen hochgehalten wurde – geschenkt. Was geistig verwirrte Protestierer im Eifer des Gefechts an originellen Ideen präsentieren, soll hier nicht das Thema sein; wurden nicht auch Särge, auf die »Ukraine« gepinselt war, herumgetragen?

Auch erkennbare Schnellschüsse von Schriftstellern sind eher unter ferner liefen zu betrachten. Wie sollte man sonst das Gedicht von Uwe Kolbe interpretieren, das die »FAZ« anlässlich des russischen Angriffs brachte? Der Dichter teilt der Nation mit: »Ich war noch nie in Russland, ich war noch nie / in der Ukraine«, und fragt sich schuldbewusst: »Wo war ich eigentlich?« Ja, wo warst du, Uwe? Die Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten wird konterkariert von der Überschrift, die sich im letzten Vers wiederholt: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen.« Wo Kolbe die vergangenen Jahrzehnte verbracht hat, scheint er nicht so genau zu wissen. Aber vielleicht kommt er als Bundeswehrbarde doch noch in die Ukraine – oder gar nach Russland? Es ist schließlich gute deutsche Tradition, dass das Militär den Mann mit fernen Ländern bekannt macht.

Bei Gerhard Matzig liegt der Fall anders. Der Architekturkritiker der »SZ« war Anfang März tatsächlich mutig gegen den Mainstream unterwegs und berichtete von telefonischen Drohungen der ukrainischen Botschaft gegenüber einem Wiener Architekturbüro, das eine im Bau befindliche Oper in Sewastopol entworfen hat: »Sie dürfen das nicht bauen, sonst …« – »Sonst was?« Matzig zweifelte an diesem Deutschland, »das aktuell gar nicht blau-gelb genug sein kann«, und bezahlte dafür mit einem vergleichsweise bescheidenen Putin-Hitler-Vergleich: »Spätestens seit Hitler aus Berlin Germania machen wollte, weiß man, dass im Architektonischen immer etwas Politisches steckt.« So wie bei der Hamburger Elbphilharmonie oder beim Berliner Schloss – aber nein, ganz falsch: so wie bei »Putins Oper« auf der Krim.

Üblicherweise präsentierte man eine ukrainische Stimme, die Putin mit Hitler verglich oder gleichsetzte. Der ukrainische Fußballer Roman Sosulja hielt sich nicht lange mit Vergleichen auf und erklärte Putin auf Facebook kurzerhand zur »Reinkarnation von Hitler«. Der Fußballprofi kennt sich womöglich ganz gut damit aus; ihm wurden schon vor Jahren Sympathien für den ukrainischen »Rechten Sektor« nachgesagt, was der heute 32jährige bestreitet. Auch der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja machte Nägel mit Köpfen und twitterte eine Fotomontage: Putin sieht in einem Zugfenster Hitler als sein Spiegelbild. Und vor einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats sagte Kyslyzja: Wenn Putin »Selbstmord begehen möchte, muss er nicht das Atomwaffenarsenal benutzen«, es reiche, das zu tun, was »der Kerl in Berlin in einem Bunker« gemacht habe.

Da schaltet Anne Will lieber einen seriöser anmutenden Kronzeugen wie den lettischen Präsidenten Egils Levits in ihre Talkshow zu: »Wir können nicht zulassen, dass ein demokratischer Staat mitten in Europa überfallen und liquidiert wird. Es ist wie der Nazi-Überfall 1939 auf Polen, Appeasement funktioniert nicht.« Nach diesem ehrfürchtig entgegengenommenen Diktum setzt Will den anwesenden deutschen Politikern die Pistole auf die Brust: Kann/soll/muss Deutschland nicht doch militärisch eingreifen? Und weil Norbert Röttgen (CDU) das für die Opposition klar verneint, nennt der »Spiegel« diese Diskussion den »traurigsten Anne-Will-Talk aller Zeiten«.

Natürlich tritt auch die heimische Journaille selbst zur Hitler-Gleichsetzung an. Stephan-Andreas Casdorff fragt im »Tagesspiegel«, »ob Lügen-Putin nun auch noch nach dem Baltikum greift? Zuzutrauen ist es ihm«, denn: »Er will – wie weiland Adolf Hitler in den dreißiger Jahren vor der Münchner Konferenz 1938 den Versailler Vertrag – die Ergebnisse der Zeit nach 1990 revidieren. In seinem Wahn, der ihn wie eine Aura umgibt.« Die Putin-Hitler-Gleichsetzung im Februar/März 2022: Wer hat noch nicht, wer will noch mal? Und man muss sagen: Nie war sie so wertvoll wie heute! Wer sich ihr verweigert, macht sich verdächtig.

Keine Frage, dass die Sache auch von richtiggehenden Historikern verhandelt wurde. Timothy Garton Ash machte es in einem Blut-, Schweiß- und Tränenappell in der »SZ« kurz und schmerzlos – und setzte Putins Einmarsch in die Ukraine ohne nähere Begründung mit Hitlers Vorgehen gegenüber der Tschechoslowakei in eins (»Immer dasselbe«). Kurzen Prozess machte auch Nikita Petrow, stellvertretender Vorsitzender der Organisation Memorial, in einem Interview mit dem »Stern«, wobei die Fragen seine Antworten schon vorwegnahmen. Putin schüre »die Minderwertigkeitskomplexe seiner Nation« – da haben wir’s schon: »Mit dieser Methode arbeitete einst auch Hitler nach dem Ersten Weltkrieg.« Und dann der überraschende Steilpass: »Sehen Sie da Parallelen?« Und ob Nikita Petrow da welche sieht!

Ganz ähnlich wie Sven Felix Kellerhoff, der in der »Welt« »erschreckende Parallelen zum Zweiten Weltkrieg« erblickt. Nicht zu vergessen Patrick Bahners, der in der »FAZ« im Schulterschluss mit Herfried Münkler zu der Erkenntnis kommt, »dass die Analogie zwischen Hitlers Vorgehen gegenüber der Tschechoslowakei und Putins Auftreten gegenüber der Ukraine ›auf der Hand liegt‹, ohne den Holocaust zu relativieren«.

Man muss diesen Satz nur vom Kopf auf die Füße stellen, und schon stimmt er: Die Putin-Hitler-Gleichsetzung dient dazu, die auch in der Ukraine von der deutschen Wehrmacht, der SS und den anderen uniformierten Mörderbanden begangenen Kriegsverbrechen, die im deutschen Geschichtsbewusstsein ohnehin kaum vorhanden sind, endgültig in den Orkus des Vergessens zu befördern. Womit das deutsche Militär endlich wieder freie Bahn hat. In den zutiefst besorgten Mienen sieht man immer wieder leuchtende Augen wie anno 1914 oder 1941.

Florian Sendtner schrieb in konkret 3/22 über das Münchner Missbrauchsgutachten