Neue Flamme

Seit dem 24. Februar 2022 hat Deutschland das Volk der Ukrainer unwiderruflich ins Herz geschlossen. Eine späte Liebe. Von Florian Sendtner

Welchen Stellenwert hat die Ukraine für Deutschland? Auf welchem Level werden die Ukrainer bei den Deutschen eintaxiert? Als heldenhafte Verteidiger ihres Vaterlands und als wahnsinnig wertvolle, supersympathische Menschen? Ja, sowieso. Aber jetzt im Ernst, jenseits der antirussischen Propaganda? Dazu muss man sich nur zwei Hosen kaufen. Zwei komplett baugleiche Herrenhosen, gleiche Größe, gleicher Schnitt, gleicher Preis, von ein und demselben ostwestfälischen Textilunternehmen. Einziger Unterschied: Die eine Hose ist hell, die andere dunkelblau. Und bei der dunkelblauen heißt es auf dem Waschzettel: »Made in Tunisia«, bei der hellen: »Made in Ukraine«.

Falls man es noch nicht gewusst hätte: Die Ukraine rangiert aus deutscher Sicht auf dem gleichen niedrigen Niveau wie die Maghrebstaaten, über die man in der deutschen Öffentlichkeit noch kein anerkennendes Wort gehört hat. Die Ukraine, für Deutschland ein Billiglohnland, das gerade gut genug ist, mir für einen Hungerlohn die Hosen zusammenzunähen. Billiger ist nur noch Bangladesch. Wieviel von dem Ladenpreis von 99 Euro pro Hose, den ich zahle, wird die ukrainische Näherin bekommen? Einen Euro?

Und wenn sie herkommen, die Ukrainer, nach Deutschland, welchen Stellenwert haben sie dann? Nein, nicht die Flüchtlingsfrau mit Kind, um deren Wohlergehen man sich seit März publikumswirksam zerreißt, sondern die ungeschminkte Wahrheit? Dazu muss man nur Björn Bickers Buch Illegal von 2009 aufschlagen, Untertitel: Wir sind viele. Wir sind da (Kunstmann-Verlag). Ein schmales Bändchen von 125 Seiten, das zentnerschwere Heuchelei aufwiegt. Bicker, damals Dramaturg der Münchner Kammerspiele, unterhielt sich mit den Illegalen, mit den Sans-Papiers, mit dem Heer derer, die Deutschland am Laufen halten, die die niederen Dienste verrichten, vom Schlachthof bis zur Putzkolonne, vom Altersheim bis zum Bordell. Bicker brachte die Monologe zu Papier. Gleich auf den ersten Seiten ein Volltreffer:

wir wohnen. / wir arbeiten. / wir sind ordentlich. / wir sind fleißig. / wir haben einen traum. / wir sind krank. / wir verstecken uns. / wir kennen eure regeln. / wir sind gesund. / ... wir verlassen die wohnung / senken den blick. / ... ihr wollt wissen / wo wir herkommen. / ok. / ukraine.

Wenn man die ganze Wahrheit über den Rang der Ukrainer im vielbemühten westlichen Wertesystem im allgemeinen und im deutschen Ranking im besonderen wissen will, muss man von Bickers Buch noch mal wenige Jahre zurückgehen, bis zur Visa-Affäre 2005. Die Visa-Affäre war ein konzertierter Angriff auf die rotgrüne Regierung in deren Spätphase und kulminierte im Visa-Untersuchungsausschuss des Bundestags, dessen Höhepunkt die Befragung des »Hauptangeklagten« Joschka Fischer am 25. April 2005 war. Der grüne Außenminister stand unter Beschuss, weil unter seiner Verantwortung in den deutschen Botschaften Osteuropas, vor allem in Kiew, angeblich viel zu locker Besuchervisa vergeben worden waren.

Das elfeinhalbstündige »Grillen« des grünen Vizekanzlers ist der Nachwelt auf Youtube erhalten geblieben. Vorsitzender des Untersuchungsausschusses war der Münchner CSU-Abgeordnete Hans-Peter Uhl, der, bevor er dem Zeugen Fischer das Wort erteilt, auf den »Kern unseres Untersuchungsauftrags« zu sprechen kommt: »Tausende von Ausländern haben sich in deutschen Botschaften Schengen-Visa unter dem Vorwand einer touristischen Reise erschlichen.«

Tausende? Das ist sozusagen eine konservative Schätzung, die Uhl sich in seiner offiziellen Funktion als Ausschussvorsitzender auferlegen muss. Sein Parteifreund, CSU-Landesgruppenchef Michael Glos (der Dobrindt von damals), spricht derweil von fünf Millionen illegaler und mehr oder weniger krimineller Ausländer in Deutschland. Die Millionen kämen vor allem aus der Ukraine, so das propagandistische Trommelfeuer der Union, und ihr touristisches Interesse an Deutschland sei nur vorgetäuscht. Denn in Wirklichkeit hole sich Deutschland keineswegs tadellose Touristen ins Land, sondern eine unüberschaubare Masse krimineller Elemente, wie der Vorsitzende Uhl weiß:

»Dieser Ausschuss soll klären, wie es zu dieser großangelegten Schleuserkriminalität kam, in deren Folge Schwarzarbeit, Prostitution und auch Frauenhandel nach Deutschland gebracht wurden.« Wozu sonst sollten Ukrainer die deutsche Grenze überschreiten? Dass CDU/CSU diese rassistische Hetze 2004/2005 verbreiten, ist das eine. Dass sämtliche Medien, inklusive »Spiegel« und »Stern«, sich den Humbug beflissen zu eigen machen, ist das andere.

Aber natürlich erinnert man sich bei der Union daran, dass man jahrzehntelang die eingeschränkte Reisefreiheit in den Ostblockländern moniert hatte. Uhl konzediert also, dass »gerade für die früheren Ostblockstaaten die Reisefreiheit ein hohes Gut« sei, das heißt für ihn: »In humanitären Einzelfällen müssen Visa selbstverständlich vergeben werden.« Alles, was darüber hinausgeht, fällt für ihn unter »Missbrauch der Reisefreiheit«. Wie hatte die inkriminierte Maxime der rotgrünen Regierung gelautet: »In dubio pro libertate« (Im Zweifel für die Reisefreiheit) – für Uhl »ein Einfallstor für illegale Migration, für Schleuserkriminalität«. Angesichts der anwesenden ukrainischen Medien schwört er: »Diesem Ausschuss liegt es völlig fern, das Volk der Ukrainer in irgendeiner Weise zu stigmatisieren.« Ja, sicher. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.

Geht man noch weiter zurück, wird die 2022 ebenso plötzlich wie heftig entflammte Liebe zu den Ukrainern immer rätselhafter. Es ist keine 80 Jahre her, da mordeten deutsche Uniformträger in der Ukraine in einem solchen Ausmaß, dass Putin heute mit seinen durchaus ambitionierten Bemühungen, als Kriegsverbrecher in die Geschichte einzugehen, als der reinste Stümper und Waisenknabe dasteht.

Allein im bayerischen Konzentrationslager Flossenbürg wurden 22.000 Gefangene aus der UdSSR geknechtet, viele davon aus der Ukraine. Als der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko bei der bayerischen Staatskanzlei anfragte, ob er am 23. April 2005 an der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg teilnehmen könne, schließlich war sein Vater einer der vielen Tausend Todgeweihten, da hatte er sich einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht: Der bayerische Staats- und Parteichef, Stoiber hieß er, konnte gerade nur kriminelle Ukrainer brauchen. Die würdige Gedenkfeier in Flossenbürg fand ohne den ukrainischen Präsidenten statt.

Florian Sendtner schrieb in konkret 6/22 über die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine