Biss zum Morgenrot
Der Deutsche Bundestag hat Olaf Scholz zum Kanzler gewählt. In konkret 11/21 versuchte Nicolai Hagedorn zu erklären, warum Scholz in all seiner kartoffelköpfigen Apparathaftigkeit den Deutschen besonders kompetent vorkommt.
Wer wie ich nur alle paar Jahre das TV-Programm einschaltet, insbesondere das tägliche Talkshow-Stahlbad meidet und daher B-Promis wie O. Scholz hauptsächlich aus den »Briefen an die Leser« der »Titanic« kennt und ihn zuletzt einmal 2017 in Bewegtbildern gesehen hat, der ist, nach neuerlicher Scholz-Ansicht anlässlich des Getöses um die Neubesetzung der bundesweiten Verwaltungseinheiten zur Sicherung deutscher Kapitalinteressen (Autos verkaufen), doch immerhin von der schönen Fügung des Schicksals erfreut, das dem Kartoffelvolk für den späten Spätkapitalismus eine Regierungsfigur geschickt hat, in der das automatische Subjekt gleichsam verkörpert ist.
Diese Person »Scholzomat« zu nennen trifft die Sache zwar schon recht gut. Ein leichtes, sich vorzustellen, dass es an ihm irgendwo tatsächlich einen Schlitz gibt, in den er selbst oder andere regelmäßig Geldstücke nachwerfen müssen, damit er weiterläuft. Jedoch prallt derlei Spott an ihm ab wie an jedem anderen unbeseelten Ding. Die vielfach gerühmte Entscheidung der SPD-Spin-Doktoren, ihren Mann auf den Plakaten als grau-gruseligen Vampirartigen vor blutrotem Hintergrund zu inszenieren, nebst aus dem Mund des Bleichen gleichsam herauspurzelnden beunruhigenden Slogans wie »Respekt für dich«, war Grundlage einer Kampagne, die – wohl einmalig in der Geschichte von Wahlkämpfen – darauf zielte, der Wählerschaft weiszumachen, der Beworbene besitze die Fähigkeit, des Nachts vorbeizukommen und weiß Gott was mit Abtrünnigen und Nichtwählern anzustellen. Diese Darstellung korrespondierte ideal mit der Leblosigkeit Scholzens, wendete diese aber zugleich genialisch ins immerhin Untote und zumindest noch an menschlichem Blut Interessierte. Und was könnte Geschichte und Gegenwart der deutschen Sozialdemokratie besser auf den Punkt bringen?
So stand er denn in den Wahlarenen und präsentierte sich als Kämpfer für die Armen (Mindestlohn), wollte Mieten deckeln und so fort – also alles tun, was gerade in Umfragen eine Mehrheit fand. Würde aus irgendeinem Grund die Volksseele die Todesstrafe für Milchtrinker oder die Ausnüchterung von Wolfgang Kubicki (FDP) fordern und wäre aus einer solchen Position irgendwie Kapital zu schlagen für ihn, Scholz würde auch dies mit dem gleichen leeren Blick als seine unverrückbare Position verkünden.
Dass Scholz in all seiner kartoffelköpfigen Apparathaftigkeit den Deutschen besonders kompetent vorkommt, kann beim besten Willen nur noch der totalen kapitalistischen Ab- und Zurichtung einer Bevölkerung zugeschrieben werden, die mittlerweile den Kapitalfetisch derart verinnerlicht hat, dass sie das Automatische der Märkte für eine Art echte, wenn man so will: vampirische Intelligenz hält und konsistenterweise auch einen automatisierten, unverblümt als Blutsauger präsentierten Kandidaten für besonders kompetent.
Dabei deutet wenig darauf hin, dass sich Scholz überhaupt für Politik interessiert. Eine Haltung ist nicht erkennbar, außer der aus jedem seiner Sätze platzenden völligen Unterwerfung unter die deutschnationalen Kapital- und Oligarcheninteressen. Scholz ist ein Sozialdemokrat im schlimmsten, also einzig denkbaren Sinne, und wie man auf die Idee kommen kann, der bemitleidenswerte Kasper, den die CDU aufgestellt hat, sei irgendwie »gefährlicher« als dieser unheimliche Noske-Nachfolger, ist kaum zu begreifen.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Scholz-Vita ist atemberaubend, vom Auftauchen des Mannes auf der politischen Bühne bis heute ist dessen Treiben ein einziger Gesamtskandal aus Steuersenkungen fürs Großkapital, Schikanierung der Wehrlosesten, die Scholz jeweils auftreiben konnte, und Hass auf alles Linke.
Es ist eine sozialdemokratische Bilderbuchkarriere: irgendwas mit Jungsozialist und Kapitalismuskritik bei den Jusos exakt so lange, bis endlich das erste bezahlte Amt, eine Position im bürgerlichen Herrschaftsapparat winkt; in der gleichen Sekunde sofortige Systemaffirmation, als wäre es von vornherein so geplant gewesen.
Bis 2001, Scholz ist 43, ist die sozialdemokratische Metamorphose abgeschlossen, er wird Hamburger Innensenator. Kaum den Oberbefehl über die Polizei des Stadtstaats erlangt, lässt er diese zwangsweise Brechmittel gegen Armutsgestalten der Hamburger Drogenszene einsetzen. Kurz nach seiner Demission im Oktober 2001, sein Nachfolger Schill hatte die SPD-Schweinereien begeistert weitergeführt, zeitigte Scholz’ Wirken das erste Todesopfer: Der Nigerianer Achidi John verlor durch eine der von Olaf Scholz eingeführten Foltermethoden sein Leben. »In der Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) sollte dem 19jährigen Nigerianer eine Magensonde eingeführt werden, doch John leistete Widerstand. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, fünf Polizisten fixierten seine Beine und drückten seinen Oberkörper zu Boden. Währenddessen flößte ihm eine Rechtsmedizinerin mit der Magensonde 30 Milliliter des Brechsirups Ipecacuanha und 800 Milliliter Wasser ein. Infolgedessen fiel John ins Koma. Vier Tage später wurde die intensivmedizinische Behandlung abgebrochen, und John verstarb noch im Krankenhaus«, rekapitulierte die »Taz« kürzlich zu Johns 20. Todestag. Es musste fünf Jahre später schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommen, die von Scholz initiierten Maßnahmen in Hamburg verbieten und erklären, dass der lebensgefährliche Einsatz solcher Mittel gegen die Menschenwürde und das Folterverbot verstößt, um diese Praxis in Hamburg zu beenden.
In der SPD kam 2001 von selbst freilich niemand auf diesen Gedanken. Und Scholz konnte seine Karriere in dieser durch und durch verkommenen Partei unbehelligt fortsetzen mit dem bekannten vorläufigen Ende als strahlender Kanzlerkandidat. Und nur nebenbei: Die grünen Hamburger Senatoren (der GAL) haben Scholz’ Folter- und potentiell tödliche Methoden damals mitgetragen – was auch sonst?
Zehn Monate nach Johns Tod wurde Scholz mit über 91 Prozent Zustimmung auf dem Parteitag zum Generalsekretär der SPD gewählt. Und nun konnte er endlich richtig loslegen. Gemeinsam mit seinen Komplizen Fischer, Schröder, Clement, Müntefering und wie sie alle hießen engagierte er einen Kriminellen, um endlich nicht nur Kleindealern, sondern einem großen Teil der bundesdeutschen Bevölkerung mit Arbeitszwang, Sozialleistungen am Existenzminimum, Schikanen in sogenannten Jobcentern, Verlängerung der Lebensarbeitszeit und Rentenkürzung zu Leibe zu rücken. Peter Hartz, der später wegen Begünstigung und Untreue in Millionenhöhe zu zwei Jahren auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 576.000 Euro (360 Tagessätze), also ungefähr seinem Nettojahreseinkommen, verknackt wurde, durfte im Auftrag der SPD die nach ihm benannten und bis heute gültigen Hartz-Gesetze konzipieren, mit denen der Sozialstaat auf ein derart erbärmliches Niveau zurückgestutzt wurde, dass der Europäische Gerichtshof (2005) und mehrmals das Bundesverfassungsgericht (zuletzt 2019) eingreifen mussten, um Scholz und seinen Freunden und Nachfolgern wiederholt zu verbieten, weiterhin auf die unter anderem im Grundgesetz recht prominent verankerte Menschenwürde einfach zu pfeifen.
Bis 2005 hatten es die Sozialdemokraten überdies geschafft, den Spitzensteuersatz von 53 Prozent (Kohl-Regierung) auf sagenhafte 42 Prozent zu reduzieren, von allerlei steuerlichen Milliardengeschenken an Banken, Fonds- und Versicherungsgesellschaften zu schweigen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung konstatierte in einer Studie von 2016: »Während die Gesamtbelastung durch Steuern seit 1998 im untersten Einkommensdezil um 5,4 Prozent zugenommen hat, sind die Personen im obersten Einkommensdezil in diesem Zeitraum um 2,3 Prozent, im Top-Ein-Prozent-Perzentil um knapp fünf Prozent ihres Haushaltsbruttoeinkommens entlastet worden.«
Scholz, der für diese Steuerentlastung der Superreichen mitverantwortlich ist, genierte sich selbstredend nicht, in den jüngsten Wahlkampf-Talkshows darauf hinzuweisen, dass Gutverdiener wie er ruhig »etwas mehr« zahlen könnten. Bei dem Mann ist seit Jahren jede Schamgrenze durchbrochen, und so etwas wie kritisches Nachfragen ist bei den waltenden TV-Journalismussimulationen ohnehin nicht zu befürchten.
Sein sozialdemokratisches Meisterstück schaffte Scholz indes anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg 2017. Um das Treffen menschenfreundlicher Topdemokraten wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin vor den protestierenden Massen zu schützen, erkor der damalige Erste Bürgermeister Scholz als Polizeiführer den selbst in Hamburger Polizeikreisen umstrittenen Hartmut Dudde aus, einen Mann, mit dem Scholz die pure Verachtung für alles Linke verbindet. Dudde, der schon mal NPD-Demonstrationen von seinen Beamten durch die Antifa-Gegendemos prügeln ließ oder sich von Gerichten erklären lassen musste, dass seine brutalen Einsätze rechtswidrig waren, war ein Ziehkind des Rechtsradikalen Ronald Schill, der ab Ende 2001 die ohnehin schon berüchtigte Hamburger Polizei endgültig auf Racket getrimmt hatte.
Was lag für Scholz da näher, als Dudde zum Einsatzleiter für die G20-Gipfeltage zu berufen? Eines war sicher: Dieser würde mit allem, was er hatte, auf jede/n Linke/n einprügeln lassen, den und die er zu fassen bekam. Der Autor dieser Zeilen hat das aus nächster Nähe begutachten dürfen, und auch Demobesuchern, für die Polizeibrutalität nichts Ungewohntes ist, bot sich ein unvergessenes Bild einer vollkommen durchgedrehten Polizeiarmee, die auch am Sonntagmorgen um drei noch mit Räumpanzern durch die Straßen im Schanzenviertel bretterte und die 20 Verbliebenen auch dann noch mit Tränengas traktierte, als diese sich längst einen Sport daraus gemacht hatten, den anrollenden Polizeifahrzeugen in die Kioske auszuweichen, dort die nächste Runde zu bestellen, um dann die von den Polizeieinheiten abgeschossenen Tränengaskartuschen dahin zurückzukicken, wo sie herkamen.
Diese Hamburger Tage und Nächte machten Scholz für lange Zeit zum Liebling der »Bildzeitung« und der SPD-Basis. Sein Aufstieg war nun nicht mehr aufzuhalten, er hatte bewiesen, dass er bereit war, auch die Kavallerie auf jede noch so kleine emanzipatorische Regung von links loszulassen. Seither können ihm weitere Skandale von Cum-Ex bis Wirecard nichts mehr anhaben. Mit diesem Lebenslauf, so viel ist sicher, hat Scholz es sich redlich verdient, Kanzler aller Deutschen zu werden.
Nicolai Hagedorn schrieb in konkret 9/21 über den Dokumentarfilm »Atomkraft Forever«
Foto: Steffen Prößdorf, via Wikimedia Commons