»Für die meisten war er ein Politclown«

Vor zehn Jahren starb der Aktionskünstler und Regisseur Christoph Schlingensief. konkret sprach mit Bettina Böhler, die in den neunziger Jahren zwei seiner Filme, »Terror 2000« und die »120 Tage von Bottrop«, montiert und jetzt den Dokumentarfilm »In das Schweigen hineinschreien« über Schlingensief gedreht hat, der in diesen Tagen im Kino startet.

konkret: Oscar Wilde hat geschrieben: »Jeder große Mann hat heutzutage seine Jünger, und stets ist es Judas, der die Biografie schreibt.« Ihr Film über Christoph Schlingensief ist eher eine Liebeserklärung.

Bettina Böhler: Liebeserklärung, ja, kann man schon so sagen. Ich habe ihn als ganz tollen Menschen, Regisseur und Künstler kennengelernt, und als ich das Angebot bekam, einen Dokumentarfilm über ihn zu machen, war mir schnell klar, dass es ein Film im Schlingensief-Stil sein muss und nur er selbst zu Wort kommen sollte. Deshalb habe ich mich auch dagegen entschieden, Weggefährten zu interviewen. Er sollte noch mal die Möglichkeit erhalten, dem Publikum und der deutschen Gesellschaft zu vermitteln, was er wollte und was er geschaffen hat, vor allem weil er so oft missverstanden wurde.

Wie jeder einigermaßen interessante Künstler ...

In seinem Fall war es nur extrem und hatte zum Beispiel zur Folge, dass er irgendwann keine Filme mehr machen konnte, weil sie die Gesellschaft so gestört haben, dass ihn niemand mehr unterstützen wollte.

Was hat die Leute denn so gestört?

Diese Kombination aus Trash und Wahrheit. Er hat der Gesellschaft mit diesen Filmen einen Spiegel vorgehalten, in dem sie sich auf keinen Fall erkennen wollte.

An einer Stelle Ihres Filmes sagt Schlingensief: »Jetzt tun alle so, als wäre das ’93 so massiv geworden …« Dasselbe Erstaunen wird auch heute vielerorts behauptet und war schon damals geheuchelt. War seine Kritik auch deshalb so prophetisch, weil sie die Gegenwart in einer Kontinuität zum Nationalsozialismus wahrnahm?

Das ist das, was unsere Generation beschäftigt hat: der Nationalsozialismus und der Umgang in der Nachkriegszeit mit ihm. An Schlingensiefs Werk kann man sehr schön ablesen, dass auch 70 Jahre nach Kriegsende das »deutsche Problem« nicht aufgearbeitet ist.

Richtet sich die Trashigkeit seiner Werke gegen eine Kultur, die sich gern anspruchsvoll und bedeutungsschwer zeigt und dabei all das verdrängt, was wesentlich wäre?

Das war sein Antrieb: das Aufdecken dieser Heuchelei. Auch wenn er über den Mauerfall spricht und beschreibt, wie die Politiker vorm Reichstag standen und die Nationalhymne gesungen haben.

Während des Jugoslawien-Kriegs ist Schlingensief nach Mazedonien gefahren, um 50 bis 200 Flüchtlinge mitzunehmen und in der Volksbühne unterzubringen. Man sieht ihn bei einem Telefonat, in dem er erwähnt, Frank wolle das nicht. Castorf?

Ja klar. Danach kommt ja auch die Szene, wo er zusammen mit Schauspielern auf der Bühne der Volksbühne sitzt und diesen Brief vorliest. An der Volksbühne gab es damals die typischen Ost-West-Grabenkämpfe. Die Angestellten aus der ehemaligen DDR hatten zum Großteil die Haltung: Also ne, was sollen hier diese Ausländer, da haben wir nix mit zu tun. Die wollen wir hier nicht.

Ein Leitmotiv seiner Filme ist die Nationalhymne, aber man bekommt den Eindruck, dass Schlingensief mit Nationalismus überhaupt nichts anfangen konnte.

Er hat schon gern in diesem Land gelebt. Es wäre für ihn auch schwierig gewesen, außerhalb des deutschsprachigen Raums zu arbeiten. Er hatte sicher kein Nationalgefühl, aber eine Verbundenheit mit dem Ort, aus dem er kam, und ganz extrem zu seinen Eltern. Da bestand eine starke emotionale Bindung. Zugleich hat er sich gegen die Provinzialität gewehrt und den Mief und gegen das Verdrängen der Vergangenheit.

Es gibt viel Filmmaterial von ihm als Kind. Man hat den Eindruck, der war schon damals zu cool für seine Eltern.

(lacht) Ja, genau! Für die Zeit ist das ungewöhnlich, dass der Vater ihn von Geburt an mit Super-8 gefilmt hat. Aber das macht auch etwas mit einer Person: dass sie diese Bühne bekommt. Schlingensief hat immer schon gewusst, wie er wirkt. Und deshalb neigte er zur Inszenierung und zur Selbstinszenierung.

Wie war die Zusammenarbeit?

Er war ein Mensch, der zwar manisch und intensiv gearbeitet hat, extrem viele Ideen hatte, aber zugleich seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sehr geschätzt hat. Es gab tatsächlich eine richtige Zusammenarbeit, was bei Künstlern dieser Art nicht oft vorkommt. Er hat natürlich immer sehr viel geredet. Aber er konnte trotzdem zuhören und sich auf andere einlassen. Das kommt im Film nicht vor, weil ich vor allem ihn zu Wort kommen lassen wollte. Mit Ausnahme der Talkshows, wo ich zeigen wollte, mit welcher Herablassung er behandelt wurde von diesem Schweizer Talkmaster, von Sabine Christiansen und von Amelie Fried: »Sagen Sie mal, wollten Sie wirklich Filme machen, oder wollen Sie eigentlich immer nur provozieren?« Diese Frage ist eine Frechheit. Für sie war er ein Polit-, ein Klassenclown. Das wusste er auch, es hat ihn trotzdem gekränkt.

Wenn man sagt, diese Gesellschaft basiert darauf, dass sie alles Mögliche verdrängt, und sich vornimmt, das hole ich jetzt hoch, sollte man sich eigentlich nicht wundern, wenn das niemand sehen will.

Rational hat er das verstanden. Trotzdem will jeder Künstler auch gemocht werden. Das Bittere ist, dass, als er krank geworden und mit dieser Krankheit an die Öffentlichkeit gegangen ist und ein Buch darüber geschrieben hat, er zum ersten Mal Erfolg hatte und von allen geliebt wurde. Er wollte ganz sicher nicht mit seinem Krebs berühmt werden.