Der dritte Weltkrieg

Vor 80 Jahren begann mit dem »Unternehmen Barbarossa« der Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion. Unmittelbar vor Beginn der Invasion hat die NS-Führung Richtlinien für das Verhalten der Truppen in Russland ausgegeben – ein Aufruf zum Massenmord, der integraler Bestandteil des Operationsplans der Wehrmacht werden sollte. Erster Teil einer mehrteiligen Serie zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Erschienen in konkret 7/2011. Die Artikelserie von Erich Später ist in einer erweiterten Fassung im Buch Der dritte Weltkrieg. Die Ostfront 19411945 (Conte-Verlag) erschienen.   

22. Juni 1941, gegen drei Uhr morgens: Mit 3,6 Millionen Soldaten, 3.500 Panzern, 600.000 motorisierten Fahrzeugen, 7.000 Geschützen und 2.700 Flugzeugen beginnt das nationalsozialistische Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion. Die größte je auf einem Schauplatz vereinte Streitmacht kämpft zwischen Ostsee und Schwarzem Meer an einer 3.000 Kilometer langen Front – mit 153 deutschen, zehn rumänischen und 18 finnischen Divisionen. Drei ungarische Brigaden und slowakische Abteilungen verstärken den Angriff. Im Verlauf des Vormarschs schickt Italiens faschistischer Führer Mussolini Kampftruppen zur Unterstützung seines deutschen Verbündeten. Auch Spaniens Diktator Franco zeigt sich dankbar für die deutsche Hilfe bei der Zerschlagung der Spanischen Republik in den Jahren 1936 – 39. Die spanische »Blaue Division« besteht aus 15.000 Freiwilligen, die sich an der Belagerung Leningrads beteiligen. Der deutsche Angriff erfolgt, ohne dass zuvor politische und/oder ökonomische Forderungen an die Sowjetunion gestellt worden wären. Es gab weder ein Ultimatum noch eine Kriegserklärung.  

Für die deutsche Kriegspropaganda ergibt sich rasch das Problem, der Bevölkerung die Tatsache plausibel zu machen, dass damit der seit dem 23. August 1939 geltende Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion gebrochen ist. Die zentrale, fortan in allen Proklamationen enthaltene Behauptung ist die eines Präventivkriegs: Der deutsche Angriff sei lediglich einem sowjetischen zuvorgekommen und diene allein der Verteidigung des Reiches. Hitler schmückt das weiter aus. In seiner »Proklamation an das deutsche Volk« behauptet er: »In der Nacht vom 17. zum 18. Juni haben zum ersten Mal russische Patrouillen auf deutsches Reichsgebiet vorgefühlt und konnten erst nach längerem Feuergefecht zurückgetrieben werden. Damit aber ist nunmehr die Stunde gekommen, an der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsbrandstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten.«  

Der Überfall wird von der deutschen Propaganda als europäischer Kreuzzug zur Verteidigung der Kultur gegen den jüdischen Bolschewismus gefeiert. »Präventivkrieg« und »Kreuzzug« sind die Leitmotive, die Deutschlands Krieg breite Unterstützung sichern sollen. Das offene Eingeständnis einer Aggression würde die ideologische und mentale Mobilisierung der Wehrmacht und der deutschen Bevölkerung erschweren. Die frei erfundene Behauptung, 160 sowjetische Divisionen hätten zum Angriff bereitgestanden und seien gerade noch rechtzeitig daran gehindert worden, in Deutschland einzufallen, wird denn auch bereitwillig akzeptiert.  

Das Schlagwort »Bolschewismus« umfasst in der deutschen Propaganda alle politischen Ideen, Strömungen und Bewegungen, die bereits seit 1933 im Reich verfolgt und blutig unterdrückt werden. Für die Nationalsozialisten und ihre konservativen Verbündeten liegt der »tiefere Sinn« ihrer Herrschaft von Beginn an in der Säuberung des deutschen »Volkskörpers« von allen gesellschaftlichen und politischen Trägern der Vorstellungen universeller menschlicher Gleichheit: Liberalismus, Marxismus, Kommunismus. Universeller Agent dieser Bewegungen ist in den Augen der Nazis das jüdische Volk, dessen Hauptstützpunkt und -bollwerk wiederum die Sowjetunion bildet. Radikaler Antikommunismus, Rassismus und Antisemitismus verschmelzen am 22. Juni 1941 im Vernichtungskrieg gegen den »jüdischen Bolschewismus«.  

Unmittelbar vor Beginn der Invasion hat die Führung Richtlinien für das Verhalten der Truppen in Russland ausgegeben. Diese geben den Soldaten ideologische und militärische Anweisungen für den Kampf gegen die Rote Armee und für die Behandlung der Zivilbevölkerung. Darin heißt es: »Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes. Dieser zersetzenden Weltanschauung und ihren Trägern gilt Deutschlands Kampf.« Der bevorstehende Krieg verlange ein »rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes«.  

Dieser Aufruf zum Massenmord wird ein integraler Bestandteil des Operationsplans der Wehrmacht. Am deutlichsten zeigt sich dies im »Kommissarbefehl« und im »Kriegsgerichtsbarkeitserlass«. Damit werden deutsche Offiziere und Mannschaften zur Ermordung aller verdächtigen sowjetischen Zivilisten ermächtigt. Das abzudeckende Kriegsgebiet sei, so heißt es im einleitenden Abschnitt, so groß, dass angesichts der besonderen Kampfstrategie und der Eigenart des Feindes an eine ordentliche Kriegsgerichtsbarkeit nicht zu denken sei. Daher wird die Truppe aufgefordert, ohne Rücksicht gegen die Feinde vorzugehen: Partisanen sollen erschossen, feindselige Zivilisten mit »äußersten Methoden« bekämpft werden. Offiziere ab dem Rang eines Bataillonskommandeurs aufwärts erhalten das Recht, Massenerschießungen von »Geiseln« und das Niederbrennen von Ortschaften anzuordnen. Für die Ermordung sowjetischer Zivilisten wird Straffreiheit gewährt, wenn dafür politische Gründe geltend gemacht werden können. Übergriffe und Verbrechen deutscher Soldaten gegen Zivilisten sollen nur dann verfolgt und bestraft werden, wenn sie die militärische Disziplin zu untergraben drohen.  

Der »Kommissarbefehl« fordert die sofortige Erschießung aller Politischen Kommissare der Roten Armee, die in deutsche Gefangenschaft geraten. »Im Kampf gegen den Bolschewismus«, heißt es, »ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen«. Die Russen und insbesondere die Politischen Kommissare der Roten Armee seien als »Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden bekannt« und eine »Gefahr für die Truppe«. Daher dürfe diesen Kommissaren nicht der Status von Kriegsgefangenen zuerkannt werden; sie seien »grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen«.  

Die politische Bedeutung der »Richtlinien für die Truppe« und der beiden genannten Erlasse lag vor allem darin, dass sie den deutschen Soldaten klarmachten, dass ihre politische und militärische Führung die millionenfache Tötung sowjetischer Soldaten und Zivilisten forderte. Die Ermächtigung zur Vernichtung all jener, die sich der deutschen Herrschaft widersetzten und die wegen ihrer Abstammung und/ oder politischen Überzeugung kein Recht haben sollten zu leben, bildete den Kern der ideologischen und militärischen Mobilisierung der Wehrmacht im Vorfeld des »Unternehmens Barbarossa«.  

Die Vorbereitungen für den Angriff auf die Sowjetunion begannen unter größter Geheimhaltung bereits ein Jahr vorher, Ende Juli 1940. Grundlage für den Feldzug wurden dann die am 18. Dezember herausgegebene Weisung Nr. 21 und das Aufmarschkonzept des Generalstabes vom 31. Januar 1941. In keiner der Planungsunterlagen und Dokumente ist die Rede von einem bevorstehenden sowjetischen Angriff. Als Endziel der militärischen Operationen wurde die Linie Archangelsk/Polarkreis-Wolga-Astrachan angegeben. Die verbleibenden Industriegebiete am Ural sollten durch Luftangriffe und schnelle Panzervorstöße zerstört werden.
 

Die Bezeichnung des gigantischen Feldzugs als »Unternehmen Barbarossa« gibt Aufschlüsse über den ideologischen Hintergrund des Feldzugs. Bis zum Überfall auf die Sowjetunion trugen die Feldzugspläne des NS-Staats stets prosaische Decknamen. Der Überfall auf Polen firmierte etwa als »Operation Weiß«; der Krieg im Westen hieß »Operation Gelb« beziehungsweise »Operation Rot«. Die Pläne für die Besetzung Spaniens und Portugals liefen unter dem Decknamen »Isabella«.  

Und die ersten Planungen für den Russland-Feldzug wurden unter dem Arbeitstitel »Aufbau Ost« geführt. In der Weisung Nr. 21 schlugen die militärischen Planer dann für den geplanten Krieg die Bezeichnung »Operation Fritz« vor. Hitler billigte das Gesamtkonzept mit zwei Änderungen: Die Vorstöße gegen Leningrad und Kiew sollten Vorrang haben vor der Einnahme Moskaus, und der Krieg sollte als »Operation Barbarossa« geführt werden.  

Der deutsche Kaiser Friedrich I. Barbarossa war 1190 während des dritten Kreuzzugs zur Rückeroberung Jerusalems ertrunken. Um seine Person entstand in den kommenden Jahrhunderten ein nationaler Mythos, demzufolge er eines Tages wiederauferstehen, seine Ruhestätte im Inneren des Berges Kyffhäuser in Thüringen verlassen und Deutschland in ein neues goldenes Zeitalter führen würde. Die rituelle Beschwörung dieses deutschen Heilsbringers gehörte seit den Tagen der Befreiungskriege gegen Napoleon zum festen Bestandteil antidemokratischer und judenfeindlicher Bewegungen in Deutschland. Militaristische und antisemitische Soldaten- und Veteranenverbände des Kaiserreiches und der Weimarer Republik schlossen sich deswegen im »Kyffhäuserbund« zusammen und förderten, wie dann auch die aufstrebende NSDAP, den Kult um Barbarossa. »Das imperiale Vorbild wurde«, wie es der Historiker Arno J. Mayer formulierte, »aus seiner traditionellen christlichen Verankerung gerissen und in einen Kronzeugen für die selbstgewählte Verpflichtung des zeitgenössischen Deutschland umgedeutet, sich als Schutzpatron der abendländischen Kultur zu betätigen – insbesondere gegen das barbarische bolschewistische Regime jenseits seiner Ostgrenze«.
 

Die der NS-Führung zur Unterwerfung und Zerschlagung der Sowjetunion basierten auf einem breiten Konsens innerhalb der herrschenden deutschen Eliten. Zwar hatte der »deutsche Drang nach Osten« mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg einen kräftigen Dämpfer erhalten. Dennoch war es für große Teile der traditionellen Machteliten in Wirtschaft, Bürokratie und Militär auch in der Weimarer Republik selbstverständlich, über eine erneute Offensive im Osten nachzudenken. Im Mittelpunkt der imperialen Konzepte standen dabei die Beseitigung des polnischen Nationalstaats und der Krieg gegen den »Bolschewismus«.  

Es waren vor allem ökonomische und geostrategische Erwägungen, die die Wirtschafts- und Militärführer und ihre nationalsozialistischen Bündnispartner dabei leiteten: Sie lehnten eine stärkere weltwirtschaftliche Verflechtung und die Ausrichtung der deutschen Industrie auf den Export ab – wegen der dadurch vermeintlich wachsenden Abhängigkeit vom Ausland. Dies bedeutete auch eine Abkehr von der machtpolitisch unsicheren Kolonialpolitik in Übersee. Statt dessen setzte man auf eine unter Einsatz von Gewalt erst noch zu schaffenden autarke Großraumwirtschaft. Unverzichtbar hierfür war die Kontrolle weiter Gebiete der Sowjetunion. Dort gab es die Rohstoffe und Absatzmärkte, die billigen Arbeitskräfte und Siedlungsgebiete, die Deutschland angeblich dringend benötigte.  

Diese Begehrlichkeiten mündeten nach der Unterwerfung Westeuropas 1940 und der Weigerung Großbritanniens, die deutsche Vormachtstellung anzuerkennen, in den Planungen zur gewaltsamen Unterwerfung und Ausbeutung der Sowjetunion. Die Beherrschung des gewaltigen »Ostraums« sollte die ökonomische Grundlage für den als unvermeidlich angesehenen globalen Krieg gegen die USA und Großbritannien schaffen. Die Bildung eines kontinentaleuropäischen Imperiums würde es dem »Dritten Reich« möglich machen, den Kampf um die Weltherrschaft siegreich zu führen.

Erich Später