Unter Feuer

"Es waren aber letztlich nicht militärische, sondern vor allem sozioökonomische Faktoren, die zur strategischen Niederlage der USA in Afghanistan beitrugen." Tomasz Konicz in konkret 6/21 über den Abzug des Westens und einen failed state, der für die Taliban eine leichte Beute war.

 

Rund drei Jahre konnte sich das prosowjetische Regime von Mohammed Najibullah gegen die von den USA unterstützten Mujahedin halten, nachdem die Sowjetunion 1989 ihre Truppen nach einem verheerenden, rund zwölf Jahre andauernden Krieg aus Afghanistan abgezogen hatte. Najibullah verblieb während des folgenden Bürgerkrieges zwischen islamistischen Milizen in Kabul, bis er 1996 von ebenjenen siegreichen Steinzeitislamisten der Taliban ergriffen, gefoltert und ermordet wurde, die einem gewissen Osama bin Laden als einem verdienten Veteranen im Kampf gegen die Sowjettruppen in Afghanistan Unterschlupf und eine Basis für sein Terrornetzwerk Al Qaida gewährt hatten.

Die USA sind in Afghanistan länger geblieben als damals die Sowjets. Doch es ist fraglich, ob den rudimentären staatlichen Machtstrukturen, die Washington nach dem Sturz der Taliban ab 2001 aufgebaut hat, eine ähnlich lange Überlebensdauer vergönnt sein wird wie dem besagten sowjetischen Satellitenregime, wenn die US-Militärmaschinerie samt ihrem Nato-Anhang erst abgezogen ist. Durchgestochene Lageeinschätzungen der US-Geheimdienste gehen davon aus, dass die Taliban in zwei bis drei Jahren die Kontrolle über den failed state zurückgewinnen werden.

Für die Intervention in Afghanistan und das anschließende nation building verpulverte Washington nahezu eine Billion US-Dollar. Die »New York Times« etwa fragte Ende April, wie lange die afghanischen »Sicherheitskräfte« den Taliban standhalten könnten, da Washington bei seinem Abzug »gebrochene und ramponierte« Militär- und Polizeistrukturen hinterlasse. An der Schlagkraft der korrupten afghanischen Sicherheitskräfte, die rund 300.000 Soldstellen umfassen, seien Zweifel angebracht, da viele Posten bei Armee und Polizei unbesetzt blieben, um den Kommandeuren zusätzliche Einnahmen zu verschaffen. Die US-amerikanische Zeitung berichtet von Einheiten, die faktisch nur die Hälfte ihrer offiziellen Mannstärke aufwiesen. Die 74 Milliarden Dollar, die Washington zum Aufbau der Armee aufwendete, seien teilweise in informellen Machtstrukturen versickert, die von Clans und ethnischen oder religiösen Rackets geprägt sind. Außerdem werde Armeeausrüstung oft weiterverkauft, so dass etwa die Lieferung von US-Nachtsichtgeräten an die afghanische Polizei eingestellt wurde. Es herrsche Mangel an gepanzerten Fahrzeugen und selbst an Munition — einige Einheiten würden eine »übermäßige Anzahl« von Patronen verfeuern, um die Hülsen als Altmetall auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.

Die niedrige Moral der miserabel bezahlten afghanischen Polizei und Armee resultiert aber auch aus den hohen Verlusten, die sie hinnehmen müssen. Seit 2001 sind mehr als 3500 Soldaten der westlichen US-Koalitionskräfte in Afghanistan umgekommen. Die dortigen Sicherheitskräfte, deren Verwundete eine besonders lausige medizinische Versorgung erhalten, haben hingegen 66.000 Mann verloren. Derzeit kann man bei der afghanischen Polizei und Armee von etwa 300 Toten und 200 Verletzten im Monat ausgehen. Diese Umstände haben zu einem starken Einbruch der Rekrutierungsrate geführt. Überdies ist Afghanistans Luftwaffe zu ineffektiv, um wirksame Luftschläge durchzuführen.

Obwohl die US-Armee noch im Land präsent ist, kontrollieren die Taliban derzeit mehr Territorium als jemals zuvor seit ihrem Sturz 2001. Die Steinzeitislamisten operieren auf rund zwei Dritteln des afghanischen Staatsgebiets. Etliche Militärbasen im Süden des Landes sind faktisch umzingelt und müsSen mit Hubschraubern versorgt werden. Verhandlungen über einen Abzug der Militäreinheiten scheiterten daran, dass die Taliban darauf beharren, dass die Soldaten ihre Ausrüstung zurücklassen.

Seit der Ankündigung des Abzugs der Nato-Truppen sind viele Polizeiposten von den Taliban überrannt oder einfach aufgegeben worden - ihre Besatzungen desertierten oder liefen zu den Taliban über. Anfang Mai starteten die Islamisten zudem in mehreren Landesteilen eine Offensive. Das Pentagon erklärte schon kurz vor den Gefechten, dass man sich auf direkte Taliban-Angriffe während des Abzugs vorbereite, der bis zum 20. Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center abgeschlossen werden soll. Die US-Armee könnte während ihres Abzugs also unter Feuer geraten.

Anfang April hat sich US-Präsident Joe Biden gegen starke Vorbehalte im Pentagon mit einem Plan für einen bedingungslosen Abzug durchgesetzt, der auch bei einer Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan fortgesetzt werden soll. Damit setzt Biden faktisch die Politik Trumps fort, der im Februar 2020 Gespräche mit den Taliban einleitete - unter Ausschluss der afghanischen Regierung. Im Austausch gegen eine Einstellung der Angriffe auf Truppen der westlichen Koalition und eine formelle Distanzierung vom Islamischen Staat und von Al Quaida wurden Tausende Taliban aus den Gefängnissen entlassen. Zudem laufen nun direkte Verhandlungen zwischen den Islamisten und der afghanischen Regierung, bei denen aber die Gotteskrieger mittlerweile - aufgrund von Anschlägen auf Regierungsbeamte und der Kräfteverhältnisse auf dem Schlachtfeld - am längeren Hebel sitzen und auf Zeit spielen.

Es waren aber letztlich nicht militärische, sondern vor allem sozioökonomische Faktoren, die zur strategischen Niederlage der USA in Afghanistan beitrugen. Mit rund 143 Milliarden Dollar waren die Aufwendungen Washingtons zum zivilen Wiederaufbau Afghanistans rund doppelt so hoch wie der Betrag, der in die Streitkräfte des zerfallenden Landes gesteckt wurde. Dem Pentagon war also durchaus klar, dass man den Krieg nicht ohne eine Hebung des Lebensstandards in einem der ärmsten Länder der Welt gewinnen würde. Doch Anfang 2021 veröffentlichte Untersuchungen, die stichprobenhaft die Effektivität von Investitionen im Umfang von 7,8 Milliarden Dollar in Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse oder Straßenprojekte und Brücken prüften, kamen zu einem vernichtenden Ergebnis: Nur 1,2 Milliarden Dollar wurden in Projekte gesteckt, die weiterhin »wie beabsichtigt genutzt« würden. Nur ein kleiner Teil dieser untersuchten Infrastrukturinvestitionen — sie umfassen 343 Millionen Dollar — befindet sich weiterhin in einem »guten Zustand«. Rund 2,4 Milliarden Dollar wurden gar für Projekte aufgewendet, die schlicht nutzlos waren.

Das zentrale Infrastrukturprojekt der USA in Afghanistan bestand im Wiederaufbau der sogenannten Ringstraße, eines Fernstraßensystems, das 3.200 Kilometer umfasst und Kabul mit den Großstädten Kandahar im Süden, Herat im Westen und Masar-e Scharif im Norden verbinden sollte. Ursprünglich von der Sowjetunion in den 1960er Jahren errichtet, wurde die wichtigste Fernverkehrsverbindung des unzugänglichen gebirgigen Landes im US-finanzierten Bürgerkrieg in den 1980er und 1990er Jahren weitgehend zerstört. Die Kosten für den Bau des ambitionierten Projekts stiegen von 1,5 Milliarden auf drei Milliarden Dollar. Neben militärischen Erfordernissen (»wo die Straßen aufhören, da beginnen die Taliban«, erklärte der damalige US-Präsident George W. Bush anlässlich der Ankündigung des Vorhabens) spielte bei den Planungen auch die Hoffnung auf eine Belebung der angeschlagenen Wirtschaft, die unter den Taliban hauptsächlich aus Drogenanbau und Subsistenzwirtschaft bestand, eine wichtige Rolle.

Trotz anhaltender Taliban-Angriffe konnte das wichtigste Teilstück zwischen Kabul und der zweitgrößten Stadt Afghanistans, der ehemaligen Taliban-Hochburg Kandahar, Ende 2003 fertiggestellt werden, wodurch die Fahrzeit zwischen diesen Städten von 18 auf sechs Stunden verkürzt wurde. Doch mit der Invasion des Irak durch die Bush-Administration, die mit massiven Kürzungen und einer Truppenreduzierung in Afghanistan einherging, verschlechterte sich die Sicherheitslage im Land rapide. Zwischen 2003 und 2009 konnten die Taliban ihren Aktionsradius massiv ausweiten und in rund der Hälfte des Territoriums wieder Fuß fassen - vor allem Angriffe entlang der Ringstraße, die zu einem Hauptziel wurde, nahmen zu. Laut Schätzungen von US-Behörden ist diese Lebensader des Landes inzwischen zu 20 Prozent zerstört — der Rest ist im Verfall begriffen. Selbst das strategisch wichtigste Teilstück zwischen Kabul und Kandahar sei kaum noch für den zivilen Verkehr befahrbar. Bei einer Zerstörung der Straßenverbindung drohe ein Kollaps der Zentralregierung, warnten US-Studien, da sie die Kontrolle über den paschtunisch geprägten Süden verlieren würde.

Das Scheitern des Aufbaus einer verlässlichen Infrastruktur und stabilen Staatsmacht in Afghanistan verweist nur darauf, dass dem US-amerikanischen Vorhaben des nation building schlicht die ökonomische Grundlage fehlt, die keine Militärintervention herbeibomben kann. Eine Verwertung von Lohnarbeit in ausreichender gesellschaftlicher Breite, um hierdurch eine Klasse von Lohnabhängigen und — vermittels Steuern — einen Staat zu finanzieren, findet in dem durch Subsistenzwirtschaft geprägten, gescheiterten Staat nicht statt. Deswegen wird der von den USA mit Milliarden hochgepäppelte Staatsapparat von den unterschiedlichen poststaatlichen Rackets vor allem als Selbstbedienungsladen begriffen, der Geldeinkünfte in einer ökonomisch aussichtslosen Lage generiert — und wenn die auch nur aus Patronenhülsen kommen, die als Altmetall veräußert werden.

Tomasz Konicz schrieb in konkret 5/21 über die Standortkonkurrenz unter den Bedingungen des Impfstoffnationalismus