»Hitler hat aus den gleichen Gründen ein Weltmassaker organisiert«

2013, drei Jahre nach dem Tod von Alice Miller, erschien das Buch Das wahre »Drama des begabten Kindes«. Darin schildert ihr Sohn Martin, 1950 geboren, die schwierige Beziehung zu der berühmten Psychologin und Kinderrechtlerin. Martin Miller konnte nie begreifen, warum ihn seine Mutter, die sich als erste im Schweizer Fernsehen gegen Kindesmisshandlung und -missbrauch aussprach, in seiner Kindheit nie vor dem prügelnden Vater in Schutz genommen hatte. Mit »Who’s afraid of Alice Miller?« ist nun ein Dokumentarfilm erschienen, der Martin Miller bei dem Versuch begleitet, seine Verletzung zu bewältigen.

Briefe von Alice Miller an ihren Sohn ziehen sich als Voice-over durch den Film. Mittels Überblendung werden besonders krasse Aussagen hervorgehoben, mit einer Stimme, die kalt und scharf klingen soll. Man hört, wie Alice Miller ihrem Sohn unterstellt: »Ich habe den Eindruck, dass du nach wie vor in Illusionen schwelgst und immer noch nicht wenig stolz bist auf deine immensen Möglichkeiten, andere Menschen gründlich reinzulegen und dir selber dabei, mit grandioser Angeberei, ein Grab zu schaufeln. Hitler hat aus den gleichen Gründen ein Weltmassaker organisiert«. Der Ton, den die Psychologin in den Briefen anschlägt, ist erwartungsgemäß schockierend. Trotzdem ist der Schweizer Psychotherapeut Martin Miller kein Sympathieträger.

Im Film begleitet ihn ein Kamerateam zunächst in die USA, zu einer Cousine seiner Mutter, die ebenfalls Psychotherapeutin ist. Auf der Suche nach weiteren Informationen reisen sie gemeinsam nach Lódź, Piotrków und Warschau. Man erfährt, dass Alice Miller als Jugendliche aus dem Ghetto in Piotrków floh. Dass sie in Warschau gefälschte Dokumente für ihre Schwester und ihre Mutter organisierte. Dass sie ihren Vater im Ghetto zurücklassen mussten, weil er zu schlecht Polnisch sprach. Mit ihrem Sohn hat Alice Miller nicht über die Verfolgung gesprochen, auch die jüdische Herkunft verschwieg sie. Martin Miller bezeichnet das als »Drama der zweiten Generation«. Der Krieg habe nicht aufgehört. Es gehe weiter und weiter. Unterstützt von einer Holocaust-Forscherin, versuchen sie anhand einzelner Dokumente aus den polnischen Archiven, das Leben von Alice Miller und ihrem Ehemann Andrzej Miller während der Kriegsjahre nachzuvollziehen. Martin erinnert sich, dass seine Mutter den Vater immer wieder als Peiniger und Verfolger bezeichnet hat. Als eine Publikation auftaucht, in der ein Andrzej Miller genannt und als »Szmalcownik«, als Kollaborateur der Gestapo, bezeichnet wird, glaubt Martin, in der Beschreibung seinen Vater zu erkennen. Doch die Daten stimmen nicht überein.

2013 sagte Martin Miller in einem Interview mit der Tageszeitung »Südostschweiz« über seine Mutter: »Es war erschreckend zu erkennen, dass selbst ein Holocaust-Opfer menschenfeindliche Verhaltensweisen anwendet, wenn es Spitz auf Knopf geht.«.

Lieber Martin,
um es mit den Worten der Holocaust-Überlebenden Ruth Klüger zu sagen: »Auschwitz war keine Besserungsanstalt.«.

»Who’s afraid of Alice Miller?«; Regie: Daniel Howald; mit Martin Miller, Irenka Taurek; Schweiz 2020; 100 Minuten; ab 28. Oktober im Kino

Franziska Otto