Die Betonwüste lebt

In Hamburg befasst sich eine Ausstellung mit Geschichte und Gegenwart der Graffiti-Kunst. Von Frederic Lucas Wrage

Ob aus Lust an der Subversion, wegen des Nervenkitzels, den die waghalsige Aktion verspricht, oder schlicht um der Kunst selbst willen: Es gibt eine Reihe von Gründen, warum Menschen Graffiti malen. Einen Eindruck von dieser Kunstform vermitteln die Workshops des Rahmenprogramms der Ausstellung „Eine Stadt wird bunt“. Unter diesem Titel beschreiben Angehörige der Szene im eher untypischen Medium des Buchs die Geschichte ihrer Kunst in Hamburg. Neben den bunten und vielfältigen Formen, die Graffiti in der Stadt annahmen, erzählen Buch und Ausstellung von der Aneignung des öffentlichen Raumes durch junge Menschen. Ungeahnte und ungeplante Zwischenräume seien besetzt worden, „transitorische“ Kunst entstand auf S-Bahn-Zügen. Hierzu schafft die Ausstellung durch eingespielte Bahnhofsgeräusche und historische S-Bahn-Bänke eine Atmosphäre, die den Bezug zu den Orten der Entstehung vieler Graffiti unterstreicht.

Die Graffiti-Kunst ging darüber hinaus mit bestimmten modischen Trends und – überwiegend männlicher ‑ jugendlicher Selbstbehauptung, beispielsweise im Zusammenhang mit der Gefährlichkeit des S-Bahn-Surfens, einher. Besonders einflussreich auf die Szene war der HipHop. Bei Graffiti handelt es sich um eine illegalisierte Form der bewussten Abweichung von sozialen Normen. Ihre Protagonisten und Protagonistinnen lebten häufig in von Gentrifizierung betroffenen Stadtgebieten und versuchten, sich durch das Sprayen wiederanzueignen, was unzugänglich gemacht oder dem Verfall preisgegeben wurde. Die bedrückende gleichförmige Umwelt der städtischen Betonwüste wurde mit Hilfe von Graffiti mancherorts neu belebt. Nicht zuletzt handelt es sich bei Graffiti um ganz direkte politische Kommentare und Forderungen. Auch dieser Umstand wird mit der Ausstellung beleuchtet.

Heute erleben Graffiti eine veränderte kulturelle Besetzung. Sie gehören mit ihrer nunmehr positiv(er) besetzten bunten, diversen, mit dem Schein der alternativen Individualität umgebenen Urbanität auch zum offiziellen Selbstbild Hamburgs. Diese Integration ist natürlich nicht total, es wird durch Graffiti immer noch auf fremdes Eigentum zugegriffen, und sie treffen nach wie vor auf den Unmut spießiger Zeitgenossen. Zugleich signalisiert die formale Beauftragung von Künstlern und Künstlerinnen zur Verschönerung von S-Bahn-Stationen und Häuserwänden die Einhegung in die offizielle Kultur.

Auch unter diesem Aspekt können Buch und Ausstellung, die zugleich als Geschichtsschreibung durch die Akteure und Akteurinnen selbst entstanden, interpretiert werden. Die Ausstellung zeigt, wie der Spießigkeit damals und heute etwas entgegengesetzt werden kann. Hierfür haben Angehörige der Szene etwa 425.000 Bilder und Archivmaterialien zur Graffiti-Kunst in Hamburg von 1980 bis 1999 verarbeitet. 1.300 davon, zum großen Teil bislang unveröffentlicht und teilweise mit Kommentaren versehen, haben es ins Buch geschafft. Hinzu kommen Kapitel zur historischen Einordnung der Künstler/innen, zu ihrer Inspiration, sozialen Lage und dem öffentlichen Diskurs um die Graffiti-Kunst. Die erste Auflage des Buches erschien bereits im Dezember 2021, eine zweite erscheint am 18. Juli. Die Ausstellung kann noch bis zum 2. September im lokal-, sozial- und industriehistorisch ausgerichteten Stadtteilarchiv Ottensen -Geschichtswerkstatt für Altona e. V. besucht werden.

 

Website zum Buch: https://einestadtwirdbunt.de/

Stadtteilarchiv Ottensen: https://stadtteilarchiv-ottensen.de/

 

Frederic Lucas Wrage