In der Zeit und gegen sie

Heute ist Jean-Luc Godard im Alter von 91 Jahren gestorben. In konkret 2/21 schrieb Benjamin Moldenhauer über das filmische Verfahren des französisch-schweizerischen Regisseurs  

Es gibt die Regel. Gut. Es gibt die Ausnahme. Gut. Die Regel ist die Kultur. Nein. Die Kultur ist es, die die Regel ist. Die Teil der Regel ist. Und da ist die Ausnahme, die Kunst ist. Die Teil der Kunst ist.« In seinem filmischen Selbstportrait »JLG/JLG – Godard über Godard« (1994) meditiert der 65jährige Jean-Luc Godard über die Ausnahme. Das Ganze ist aufgenommen mit einer Stehlampe zur Ausleuchtung, der Regisseur wird zur schwarzen Silhouette, weil er von der Kamera aus gesehen vor der Lampe sitzt. Eigentlich organisiert man das Licht für so ein Bild anders. »Alle sagen: ›Die Regel‹. Zigaretten, Computer, T-Shirts, Fernseher, Tourismus, Krieg.« Godard spricht für die Kamera mit sich selbst, es folgt ein Schnitt in den Satz und auf einen Steg, der auf den Genfer See hinausführt, eine Entenfamilie links im Bild, sakrale Musik. Ein Wort auf einem Notizblock (»Windmonat«), eine Eisfläche, die Zeichnung einer nackten Tänzerin an der Wand, die Stimme des Regisseurs, die über die Angst spricht und dann wieder über die Ausnahme, zu der er sich offensichtlich zählt.

Mit Recht. »JLG/JLG« ermöglicht einen so guten Zugang zum Werk Godards wie jeder andere der über hundert Filme, die der Mann seit 1960 gedreht hat. Egal, wo man anfängt, man »versteht« meist erst einmal nichts, oder besser: Man beginnt erst, etwas wie auch immer zu verstehen, wenn man sich nicht mehr darüber aufregt, dass hier keine Vermittlung auf bereits bekannten Wegen stattfindet. Gerade das Spätwerk löst bei manchen deswegen noch starke Aversionen aus. Zum Beispiel beim britischen Filmkritiker Mark Kermode, der 2010 bei seinem Cannes-Besuch »Film socialisme« gesehen und daraufhin in einem recht formvollendeten Rant als »trostlosen, rotznasigen intellektuellen Nonsens« klassifiziert hat: »In diesem Fall hat der Kaiser nicht nur keine Kleider. Hier rennt der Kaiser die Straße entlang und fuchtelt dir dabei mit seiner Nouvelle Vague vor deinem Gesicht hin und her.«

Beim Betrachten der Filme Godards macht sich wiederholt heftige Unlust breit, beim einen mehr, beim anderen weniger. Man kann das, mit Gilles Deleuze, an dieser Stelle abkürzen: »Wenn es nicht funktioniert, nehmt doch einfach ein anderes Buch …, etwas kommt rüber oder nicht, etwas passiert oder passiert nicht.« Die notwendige Prämisse für die Wahrnehmung von Godards Arbeit an den Bildern ist, dass etwas unmittelbar bei einem passiert, sonst kann man es einfach lassen. Das macht dann auch nichts.

Der Vorwurf der pseudointellektuell oder -radikal aufgebrezelten Scharlatanerie begleitet die Rezeption von Godards Werk nun seit etwa 53 Jahren. Viel und gerne gesehen wurden seine Filme eigentlich nur, solange sie sich in ambivalenter Spannung zum Genrekino befanden. Also vor allem von 1960 bis 1967, von »Außer Atem« (1960) bis »Elf Uhr nachts« (1965). Filme, die vollgestopft mit Filmzitaten und -bezügen waren, schnell gedreht, in vielem spontan und improvisiert, dabei selbstironisch und -reflexiv und vor Ideen geradezu überquellend. »Ich habe meine Filme eher so gemacht, wie zwei, drei Jazzmusiker arbeiten: Man gibt sich ein Thema, man spielt, und dann organisiert es sich von selbst«, sagte Godard damals. Wacher und schöner ist das, was im Kino zu sehen war zu dieser Zeit, selten gewesen. Für die Wahrnehmung der sechziger Jahre heute sind die ersten Filme des Regisseurs unentbehrlich.

Ambivalent ist die Spannung zum Genrekino insofern, als diese Filme das, was sie an US-amerikanischer und europäischer Kinogeschichte auf- und auseinandernehmen, um es anders wieder zusammenzusetzen, unübersehbar lieben und zugleich immer auch loswerden wollen; für die Bilder der Schauspielerinnen, mit denen Godard während der Zeit des Drehs zusammengelebt hat, die Bilder von Anna Karina und Anne Wiazemsky also, gilt eventuell das gleiche. Dass Susan Sontags 1968 formulierte Wahrnehmung zuträfe, Godards Filme seien rätselhafter als die einer vollkommen freidrehenden Avantgarde, weil sie »die Konventionen fiktionaler Prosa … eher modifizieren, statt mit ihnen völlig zu brechen«, lässt sich jedenfalls von heute aus gesehen nicht aufrechterhalten. Godards Werk war schon immer sehr anstrengend, umso mehr aber, je weiter sich die narrative Struktur seiner Filme von den geliebten Fixpunkten des US-amerikanischen Genrekinos abgelöst und hin zu einem von allen Sehkonventionen befreiten Essayfilm entwickelt hat.

Was es auch nicht leichter macht: Man erkennt »einen Godard« immer gleich, wenn man ihn sieht, und doch ist jeder Film anders. Vermutlich gibt es keinen Filmemacher, der in seinen Konzepten so beweglich geblieben ist. Die inzwischen etablierte Untergliederung seiner Filmografie in Werkphasen ist schlüssig, solange man sie nicht als Abfolge von Brüchen versteht, sondern als Wellen: Weil nichts wirklich verlorengeht und alles, was neu hinzukommt, sich aus dem Alten heraus entwickelt. Bert Rebhandl hat in seiner Monografie zu Godard, die 2020 erschienen ist, im Jahr des 90. Geburtstags des Filmemachers, das Bild des »permanenten Revolutionärs« vorgeschlagen. Das trifft es. Kontinuierlich präsent ist der Versuch, die selbstverständlichen Bilderordnungen anzugreifen und zu unterlaufen: in der Phase »Pop-Art« (1959 bis 1967) noch ironisch und spielerisch (aber mit großem Ernst), später dann – Rebhandl nennt es »Revolutionskino« (1967 bis 1973) – bilden die Bilder den Angriffspunkt des Revolutionärs, der auch in der Welt außerhalb des Kinos alles neu gemacht sehen wollte. »Er misstraut den Bildern«, schreibt Rebhandl über den Godard der Filme, die gemeinsam mit dem Althusser-Schüler Jean-Pierre Gorin entstanden sind, »weil sie für einen Realismus stehen, den die Massenmedien zu einer Ideologie geformt haben: Irgendwo hinzugehen und sich ein Bild zu machen, wie es Reporter tun, führt nur zu Bildern, die den Status quo bestärken.«

Stattdessen fabriziert Godard 1968 ein fragmentiertes Gebilde wie »Die fröhliche Wissenschaft«, in dem, so formuliert es das Lexikon des internationalen Films, »die Ideen genauso wichtig wie die Bilder sind«. Zumindest die Idee, dass man mit diesen ausufernden Assoziationen über das Verhältnis von Sprache und Bild die Revolution außerhalb des Kinosaals befördern könne, stimmt einen dann doch etwas melancholisch. Godard hätte sich die größte Mühe gegeben, die Bilder aufzulösen, schreibt der französische Schriftsteller und Journalist Jean-Patrick Manchette in seiner Polemik »Godards Erfindungen«. »Das ist, wie wenn man dunkel ahnt, dass ein Stück Brot ein gesellschaftliches Verhältnis ist, und es dann allen möglichen physikalischen (und chemischen) Behandlungen unterzieht, um dem Verhältnis auf die Schliche zu kommen.« Bilder »aufzulösen«, das allerdings war tatsächlich ein Versuch, der sich nur auf einige Unternehmungen der dezidiert revolutionären Phase (Revolution im Sinne von Mao) beschränkte. Vorher und danach ging es eher darum, für sie und mit ihnen neue Verhältnisse, Verbindungen, Gegensätze, also Montagetechniken, zu entwickeln. »Sein langes Leben«, schreibt Rebhandl, »verschaffte Godard die Möglichkeit, politische und technische Revolutionen (und, möchte man ergänzen, das Ausbleiben der politischen, B. M.) immer wieder aufeinander zu beziehen.«

Die Diagnose des Lexikons des internationalen Films wiederum gilt für alles, was Godard fabriziert hat, bis heute. Seine Ideen sind allerdings nicht klar definiert, sondern mit radikalem Eigensinn geschichtet. Und sie ändern sich bei Godard immer wieder, also auch während des Drehs. Dann geht es manchmal eben auch nicht voran. Während der Arbeit an »Maria und Joseph« (1985) soll der Regisseur, als er einmal nicht mehr weiter wusste, vollständig bekleidet ins Wasser gehüpft sein. Die Crew zog Godard zurück ans Ufer des Genfer Sees, und am nächsten Tag fuhr man fort. Dass einer über einen Zeitraum von 60 Jahren in dieser Weise Filme produziert, ohne ein Drehbuch im traditionellen Sinn und immer offen für neue Abzweigungen (und für die Sackgassen, die das mit sich bringen kann), das ist auch eine Ausnahme, die zur Freiheit dieser Bilder gehört und sie mitbedingt.

Wellen statt Brüche: Die Werkphase, die Bert Rebhandl mit »Video, ergo sum« (1973 bis 1980) überschreibt, in der sich Godard die Schnitt- und Überblendungstechniken des neuen Mediums Video erschließt und ein eigenes Studio in Rolle am Genfer See aufbaut, geht mit einem Einstellen auf die neuen Gegebenheiten nach dem Ausbleiben der Revolution zusammen, mit neuen Texten im Gepäck (Foucault, Deleuze vor allem, Rebhandl zufolge). Am schönsten hat es Klaus Theweleit in seiner Rede zur Verleihung des Adorno-Preises an Godard 1995 formuliert: »Die Bögen wie die Brüche … sind keine ›Irrtümer‹, es ist Godards Art, jeweils in der Zeit zu sein und auch außerhalb von ihr und gegen sie.« Also Godards Art, eine Ausnahme und trotzdem konstant da zu sein. Ob mit Tausenden Zuschauern oder nur mit zwölf.

Der pointierte Durchgang durchs Werk, den Bert Rebhandl vornimmt, ohne sich von der Selbstmythisierung Godards beeindrucken zu lassen, ist hilfreich, egal, ob man zum ersten oder wiederholten Mal in diesen »Fluss« von Bildern (Georg Seeßlen über Godards Filme, in Abgrenzung zum Berg, den man hinauf muss) steigt und die assoziativen Text-Bild-Kopplungen zueinander in Beziehung setzt. Man sieht beispielsweise sehr viel im Film »Die fröhliche Wissenschaft«, wenn man ihn mit dem zwei Jahre zuvor entstandenen »Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola« (1966) und mit »Die Chinesin« (1967) zusammenbringt: zwei Filmen, die die Studentenbewegung bei deren Entstehen in Frankreich vielleicht genauer beschreiben als viele, die das später retrospektiv versucht haben. Am besten funktioniert es mit Godard, wenn man Dreiergruppen bildet – »jeder Film gewissermaßen ein Fragment – das aufgrund der stilistischen Kontinuitäten … ein Licht auf die anderen wirft«, schreibt Susan Sontag. Das gilt bis heute, also auch für das Filmexperiment »Bildbuch« (2018), das am besten zusammen mit »Adieu au langage« (2014) und »Film socialisme« gesehen werden kann. Da ergibt sich recht bald so etwas wie ein neues Kleid für den Kaiser. Godards Geschenk an das Kino ist die Möglichkeit für sein Publikum, ohne Druck durch die tradierten Konventionen des Sehens und Erzählens und Zeigens, aber in konstanter Spannung zu ihnen, in eine freischwebende, konzentrierte Aufmerksamkeit zu kommen, in der man mit den Bildern denken kann.

Dazu gehört, dass auch in jener Region dieses Werks, die man mit »Godard redet dummes Zeug« überschreiben kann, ordentlich was los ist. Dort finden sich zum einen eher verstreute Banalitäten wie zum Beispiel die vor einigen Jahren einem Journalisten anvertraute These, der Wahlerfolg Marine Le Pens sei zu begrüßen, denn so käme wenigstens wieder einmal Bewegung in die Sache. Die bei Godard ausdauernd präsente Assoziation der Politik Israels mit der deutschen Vernichtungspolitik reicht allerdings tiefer. Das zeigt sich unter anderem in einer noch auf Youtube zu findenden peinlichen Szene, in der Godard Ende der sechziger Jahre ein Schild in die Kamera eines Fernsehteams hält, auf dem das Wort »Nazisrael« und ein Symbol zu sehen sind, in dem Davidstern und Hakenkreuz überblendet werden, und vom Geld der Zionisten schwadroniert, die das deutsche Fernsehen finanzieren würden. Sie zeigt sich auch in einer Schuss-Gegenschuss-Folge aus »Notre Musique« von 2004, in der zwei Bilder von KZ-Häftlingen mit dem Wort »juif« beziehungsweise »musulman« versehen werden. Die Stimme Godards, der Studierenden in Sarajevo eine Vorlesung hält: »1948 sind die Israeliten ins Wasser gestiegen, um das Heilige Land zu erreichen. Die Palästinenser sind ins Wasser gegangen, um zu ertrinken.«

Angesprochen auf die Gleichsetzung von Shoah und Besatzungspolitik in »Notre Musique« (eine Gleichsetzung, mit der Godard alles andere als eine Ausnahme ist, sondern schlicht sekundären Antisemitismus reproduziert), argumentiert er in einem Interview, aus dem Richard Brody in seiner ausgesprochen lesenswerten Godard-Biografie Everything is Cinema zitiert, mit einem Mal sehr feinstofflich: Ein unerhörter Vorwurf sei das, eine Schuss-Gegenschuss-Folge würde keine Gleichwertigkeit behaupten, sondern nur Fragen stellen. Schließlich habe er zwischen die beiden Bilder der KZ-Häftlinge eine Kamerafahrt über den Arm einer Studentin eingefügt, um sie voneinander abzugrenzen. Welches etwaige Erkenntnisinteresse der grafischen Kombination von Davidstern und Hakenkreuz zugrunde lag, wurde in dem Gespräch leider nicht mehr erörtert.

Die Sequenz ist hier nicht primär als Beleg für Godards »Antizionismus« interessant (er sei, anders als sein Großvater, kein »wütender Antisemit«, sondern »Antizionist«, erklärt Godard kanadischen Studentinnen und Studenten 1978 in seinen Vorlesungen zur Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos), sondern als Hinweis auf die Problematik einer radikalen Assoziationsoffenheit, die sozusagen an ihre eigene Grenzenlosigkeit stoßen kann. Wenn dann Godards von seinen filmischen Verfahren an sich ja unabhängiger Antisemitismus hinzukommt, wird es punktuell finster: Von der historischen Tatsache, dass bis auf die Knochen abgemagerte KZ-Häftlinge in den Lagern »Muselmänner« genannt wurden, zu Palästinensern, die von den Israelis angeblich ins Wasser getrieben werden, in nur zwei Schnitten.

Falls Godard wirklich an seinen Schuss-Gegenschuss als ergebnisoffene Frage, die das Bild uns stellt, glaubt und sich nicht nur versucht rauszureden, verweist das auf die Problematik, die sich ergibt, wenn ein Filmemacher so sehr eingesponnen in die eigenen Assoziationen ist, dass er, und damit sind wir wieder bei Mark Kermodes zentralem Vorwurf, sich für sein Publikum nicht mehr interessiert. Maßgeblich soll das mitunter eben leider krause Zeug sein, das der Filmemacher sich gedacht hat. Auch wenn sonst niemand in der Lage oder gewillt ist, etwa die Sequenz in »Notre Musique« als offene Frage zu verstehen.

Zugleich aber ist dieses Nicht-mehr-Kümmern eben die Voraussetzung für die Freiheit dieser Bilder und damit für die Freiheit des Publikums, das mit ihnen verfahren kann, wie es möchte. Godard kommt uns an dieser Stelle entgegen: »Wenn mir beispielsweise einer sagt: Das ist Scheiße, was du da machst, dann müßte ich sagen: Ganz stimmt das nicht, aber etwas Wahres wird wohl dran sein.« Man sieht bei Godard immer wieder Bilder-Text-Ton-Kopplungen, die man als falsch (oder falsch verbunden) wahrnimmt. Auch mit denen kann man denken. Man verkoppelt sich im Idealfall als Zuschauer mit diesen Bildern – mit denen, die einem etwas zeigen, denkt man mit, und über die, die man falsch findet, denkt man eher nach (als mit ihnen). Und es ist nicht schlecht, etwas Falsches zu sehen, nur weil es falsch ist. Auch das gehört aufgezeichnet. Diese Freiheit des Zuschauers ist das Geschenk dieser Filme, auch dort noch, wo Jean-Luc Godard sich komplett verrennt.

Bert Rebhandl: Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär. Paul Zsolnay Verlag, München 2020, 288 Seiten, 25 Euro

Benjamin Moldenhauer schrieb in konkret 1/21 über das neue Album der kanadischen Band Voivod und die Musik des Jazz-Labels International Anthem