30 Jahre sind genug

Aus konkret 10/20: Mit der deutschen Wiedervereinigung konnte die Linke nicht rechnen. Mit vielem, was auf sie folgen sollte, allerdings schon. Ein Blick zurück von Thomas Ebermann

In eine Außenseiterposition waren wir, die wir uns Ende der achtziger Jahre in der Radikalen Linken sammelten, schon vor Maueröffnung und Wiedervereinigung geraten. Die Grünen hatten sich – unumkehrbar – auf den Weg zu einer staatstragenden, den Erfordernissen einer modernisierten Standortlogik gehorchenden, koalitionsfähigen Partei gemacht. Nicht irgendwelche parteipolitischen Intrigen brachten sie und andere aus ihrem Umfeld – beispielsweise die »Taz« – auf diesen Weg. Das gesellschaftliche Milieu, das zwischen Widerständigkeit und Verweigerung einerseits, Vernunft und Realismus andererseits changierte, hatte sich für die Anpassung entschieden. Johannes Agnoli, der durchaus schätzte, was wir zeitweise als »Sand im Getriebe« parlamentarisch veranstalteten, hatte recht behalten bezüglich der Integrationskraft eines reichen bürgerlichen Staates. Auch Formationen fernab vom Parlamentarismus, die Autonomen etwa, verloren Anhang an die Integration.

Wir hatten, nach einer Phase revolutionärer Hoffnungen in den frühen siebziger Jahren, die man nur im Rückblick als gänzlich unbegründet abtun kann, auch unter dem Eindruck des Nicht-weiter-Wissens anlässlich des wirklich repressiven »Deutschen Herbstes« 1977 auf eine Vergrößerung des widerständigen Potentials gesetzt, auf eine Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Wir suchten nach der Möglichkeit, uns auf legalem Weg mehr Gehör zu verschaffen und zu politisieren.

Nun waren wir marginal, Fundamentalisten und Utopisten eben; abseits der Sehnsüchte eines großen Teils unserer ehemaligen Basis, dem wir »rotgrüne Besoffenheit« attestierten. Gegen diesen Mainstream wollten wir die »Kraft der Negation« sein. So etwas ist biografisch aufregend und anstrengend, aber ohne welthistorischen Belang. Was wir über die Grünen versuchten, hatte auch Hermann L. Gremliza Anfang der Achtziger vorübergehend mit konkret vor, als er Manfred Bissinger engagierte und sich ein wesentlich auflagenstärkeres Blatt erhoffte. Periodisch versuchen Linke, den Tiger zu reiten, fallen runter und verlieren ein paar Weggefährten, die sich vor gesellschaftlicher Isolierung und dem Verlust der Festanstellung fürchten. Solche Niederlagen wurden zu Beginn des Versuchs antizipiert.

Dies galt jedoch nicht für die Wiedervereinigung, den Zusammenbruch des von der Sowjetunion geführten Blocks, die kapitalistische Verfügungsgewalt über (fast) den gesamten Globus – dieses wahrlich historische Ereignis also. Wir hatten zwar die Streichung des Wiedervereinigungsgebots aus dem Grundgesetz gefordert, aber behandelten diesen Paragrafen eher wie ein revanchistisches Relikt, einen irrationalen Ballast. Wir – und die Herrschaft! – waren von der sich überschlagenden Dynamik 1989/90 überrascht, selbstverständlich auch überfordert. Was wir analysieren, prognostizieren konnten, war unter anderem folgendes:

- Deutschland würde den Status der begrenzten nationalen Souveränität überwinden und die uneingeschränkte erobern, das heißt Fesseln verlieren, die dem ökonomischen Riesen militärisch angelegt worden waren. Natürlich war dieser Prozess begleitet von allerlei Beschwichtigungen mit raschen Verfallsdaten. So verkündete der Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU), deutsche Soldaten würden nie wieder ihre Stiefel auf den Boden setzen, auf dem die Nazis gewütet hatten. Dennoch war ausgemacht, dass Deutschland künftig seine militärische Handlungsmacht am eigenen nationalen Interesse ausrichten würde – was bald offizielle Doktrin werden sollte.

- Deutschland würde sich von den Konzessionen, die bei der Gründung der BRD von ehemaligen NSDAP–Mitgliedern als Lehre aus der Geschichte deklariert wurden, befreien: also neben der Aufweichung des Verbots von Auslandseinsätzen seines Militärs auch etwa das Asylrecht schleifen und die relativ strikte Untersagung von Formen des Arbeitsdienstes umgehen.

- Der Wegfall der Klammer, die den Westen im Kampf gegen den Kommunismus zusammenhielt, und damit auch das Hinfälligwerden der Unterordnung unter eine Führungsmacht würden zur absehbaren Konfrontation zwischen den USA und einem von Deutschland dominierten Europa führen. Die Stellung Deutschlands als Hegemon der EU würde – auch wegen der Ressourcen des nun vor der Haustür liegenden Ostens – gestärkt. 

- Die ungebremste Konkurrenz im Westen (begleitet von krisenhaften Problemen der Profitratenentwicklung und Kapitalakkumulation) sowie der Wegfall der Notwendigkeit, mit allerlei Regulierung und Sozialstaatlichkeit die Untertanen davon zu überzeugen, es ginge ihnen besser als im Einflussbereich der Planwirtschaft, ließen einen Angriff auf den Lebensstandard der unteren Schichten erwarten. Dies um so mehr, als die Herrschaft die alte Doktrin, wonach sozialer Friede nur durch Gratifikation zu erzielen sei, verwarf – zu Recht, denn sozialer Friede, Fleiß und Gehorsam waren auch von einem degradierten Proletariat zu erwarten, von einem deutschen zumal, das ängstlich daran glaubte, Kapital sei ein scheues Reh, das bei Unbotmäßigkeit flieht.

- Mit der Biologisierung der deutschen Wiedervereinigung – »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!« – feierte eine reaktionäre Denkschule weltweite Erfolge, nach der es wider die Menschennatur ist, wenn »Völker« nicht in einem von ihnen geprägten Staat lebten oder mehrere »Völker« in einem zusammengefasst waren – letzteres nannte man »Völkergefängnis«. So lernte ich, ganz gegen meinen Willen, dass es Kirgisistan gibt. Das Grauen, das in dieser ethnischen Sortierung wohnt, ist unumkehrbar in der Parole »Wir sind ein Volk« angelegt, weil sie die Suche nach denjenigen, die nicht zum Volk gehören, impliziert. Ereignisse wie die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln oder Solingen waren erahnbare Resultate der Wiedervereinigung.

Die meisten Deutschen hatten gelernt – und subjektiv erlitten –, dass sie, da nun einmal Aufpasser im Land stationiert waren, nicht immer handeln konnten, wie ihnen der Sinn stand (sonst hätte es selbst die mickrigen Zahlungen an Israel nicht gegeben, und die Verjährung von NS-Verbrechen wäre zeitiger erfolgt), und nicht öffentlich reden konnten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Sie waren, entgegen den eigenen Erwartungen, nach 1945 nicht bestraft, sondern als Frontstaat gepäppelt worden. So hatten sie sich zusammenphantasiert, die deutsche Teilung sei ihre Bestrafung gewesen. Damit war die Wiedervereinigung die endgültige Bestätigung dafür, dass sie als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind. Wie sie das gefeiert haben – dieser Sprung vom Gebremsten und Verdrucksten zum Lauten und Hemmungslosen, dieses Übermaß an Fahnen, Alkohol und Nationalhymnengesängen –, war angsteinflößend. Es war die Ankündigung der Untat, das brutale Hinwegrollen über alle, die Vorbehalte hatten, sich nicht einreihen mochten. Wer die wahre, befreite Gesinnung der deutschen Elite ergründen will, muss die Standing Ovations nach Martin Walsers Friedenspreis-Rede, in der er über die Dauerpräsentation »unserer Schande« flennte, in Augenschein nehmen und den komplett isolierten, auf seinem Stuhl sitzenden Ignatz Bubis und dessen Ehefrau beobachten. 

Damals, angefangen mit dem Vorspiel und den diversen Etappen bis zum Vollzug der Wiedervereinigung, gab es keinen nennenswerten, den Wahn und seine absehbaren Folgen kritisierenden Linksliberalismus. Man hatte gelernt, dass, wer zu spät kommt, vom Leben bestraft wird, und überschlug sich mit irrwitzigem Übersoll und Überpünktlichkeit. Nur beispielhaft erwähne ich das Gespräch der Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz (Ost) und Michael Lukas Moeller (West) in der linksliberalen Zeitschrift »Psychologie heute« aus dem August 1991. Moeller fängt an: »Ich habe während der Ereignisse im Herbst 1989 fassungslos und heulend vor dem Fernseher gesessen, vielleicht, weil ich mit der einen Hälfte meiner Kindheitsseele aus Schlesien, also aus Ostdeutschland (!), stamme … Ich habe es trotzdem kaum fassen können, wie physisch, wie physiologisch, wie körperlich dieses Erleben der Vereinigung bei mir war, und in mir ist auch wirklich etwas geheilt. Es muss etwas mit dem Gefühl zu tun haben, jetzt einer ganzen Nation anzugehören.« Da gehen geografische Unkenntnis und sexuelle Phantasie recht wild durcheinander, und Herr Maaz hatte Mühe, das noch zu toppen: »Die Bilder von damals lösen bei mir noch heute Tränen und Schluchzen aus. Ich empfinde eine schmerzliche Genugtuung … Tief im Innersten muss mich die Grenze sehr verletzt haben … und jetzt scheint endlich Gerechtigkeit zu werden.« Das war der ganz normale, irrsinnige Tenor im Feuilleton, von all den gestörten Typen, die sich für gesund erklärten.

Außerdem gab es eine (ostdeutsche) PDS, die unter dem Slogan »Deutschland einig Vaterland« (Hans Modrow) auflief und – untadelig patriotisch – einen anderen Paragrafen nebst anderen Modalitäten zum Zwecke der Wiedervereinigung in Anschlag brachte. Ähnlich, also konstruktiv und oft auf ein Selbstbestimmungsrecht der Völker – speziell des deutschen – rekurrierend, positionierten sich Mehrheiten derjenigen, die sich als Linke bezeichneten. Und dann waren da diese unvermeidlichen bräsigen Gestalten in großer Zahl, die durch keine Niederlage, keine Regression von ihrem ehernen Grundsatz abwichen, wonach alles irgendwie und immer Chancen und Gefahren berge und man ansonsten geduldig dicke Bretter zu bohren habe.

Es scheint mir auch heute noch angemessen, dass wir damals die marginale Radikale Linke zusammengebracht haben und vor 30 Jahren in Frankfurt mit 20.000 Außenseitern die »Nie wieder Deutschland«-Demo veranstalteten. Demonstrativ ungewillt, Bündnispolitik um den Preis von Konzessionen zu betreiben, taten wir alles, uns nicht als Ausdruck eines irgendwie wirkmächtigen oder gar machtvollen anderen oder besseren Deutschlands zu stilisieren. Dass wir die Negation, die die Parole ausdrückt, als realpolitisch illusionär und dennoch notwendig kennzeichneten (es lohnt sich, die auf der Demo gehaltenen Reden nachzulesen!), war angemessen. Gefolgt ist daraus für eine kurze Zeitspanne ein kleines Lager, das sich antinational oder antideutsch nannte (meist synonym verwendet) und sich durch jene, heute noch seltener gewordene, theoretisch begründete Unlust auszeichnete, das Graduelle so wichtig zu nehmen, dass man sich immer auf eine Seite zu schlagen hat und damit die Unfreiheit akzeptiert, sich den angebotenen Alternativen zu beugen. 

Dies betraf (und betrifft) die Dispute zwischen Neoliberalismus und Keynesianismus (der weitgehend die Kritik kapitalistischer Totalität ersetzt hat); das Spannungsverhältnis zwischen, wie wir damals sagten, Germanophilen und Pro-Westlern (heute vielleicht: Völkischen und Zivilgesellschaftlern); den Streit zwischen an Abstammung orientierten Nationalisten und Verfassungspatrioten und so weiter. Es ging dabei nie um Äquidistanz, sondern um den Nachweis, wie einig diese Antipoden sind, wenn es um Deutschland und seine Stellung in der Weltmarktkonkurrenz geht. Welches dieser Lager die größeren »Verdienste« etwa auf dem Gebiet des Abbaus sozialer Standards oder bei der Herstellung deutscher Kriegsfähigkeit oder dem Ausbau der Festung Europa und des Systems der Abschiebung hat, ist ohnehin nicht zu ermitteln. Allerdings kann die schlichteste Empirie nicht leugnen, dass, was noch in den achtziger Jahren in der entsprechenden Forschung als »rechtsradikal« eingestuft wurde, heute Eingang in staatliches Handeln und den alltäglichen Sprachschatz etablierter Politik gefunden hat. Als verfassungsfeindlich galt vor der Wende, wer das Asylrecht abschaffen wollte, und der »Stolz auf Deutschland« galt als Ausweis der Feindschaft zur freiheitlichen Ordnung.

Unausgeführt bleibt hier, was wir damals nicht ahnten oder falsch prognostizierten. Selbstverständlich haben wir nicht gewusst, wie rasch China sich zur Weltmacht entwickeln würde. Zeitweise war ich davon überzeugt, dass es zu einer Liaison zwischen der EU und Russland kommen würde, wie sie von Putin im Deutschen Bundestag, mit heftigem Applaus bedacht, umrissen wurde – mit Stoßrichtung gegen die USA. Nicht immer gerechnet habe ich mit den Schwierigkeiten, eine handlungsfähige EU zu schaffen, die nicht, wie heute, von nationalstaatlichen Interessen fragmentiert und von Zerfall bedroht ist.

Ich kenne den Vorwurf, er ist mir oft genug begegnet, wir seien damals »zu alarmistisch« gewesen, einige von uns – ich glaube, ich habe den Terminus nicht verwendet – hätten vom »Vierten Reich« gesprochen, also eine Art Kontinuität oder Wiederauferstehung des Dritten behauptet. Das enthält – zugegeben – einen Anteil an Wahrheit. Manchmal – etwa in den Wochen des nationalen Rauschs oder in denen der Pogrome vor den Flüchtlingsunterkünften – sieht man ein Potential in der deutschen Gesellschaft, eine faschistische oder faschistoide Möglichkeit, die einem unaufhaltsam erscheint. Noch erweist sich die bürgerliche Demokratie, die ja alles andere als eine schlechte Form zur Regulierung von Kapitalakkumulation und Bewirtschaftung der Subalternen ist, als stabiler – auch durch die Übernahme wesentlicher Inhalte des Faschistoiden bei gleichzeitiger Untersagung von Alleingängen und Übertreibungen. 

Gerhard Schröders (SPD) berühmter »Aufstand der Anständigen« hat damals temporär Wirkung gezeigt: als Hemmnis gegen den Aufstieg der offenen Nazis und um den Preis der Akzeptanz des staatlichen Rassismus sowie der Verwandlung ehemals staatskritischer Potentiale in staatstragende – die blöde Parole »Wir sind mehr!« ist Ausdruck davon. Wer sich zur Mehrheit zählt, muss nicht nur alle Resultate der Erforscher deutscher Meinungen aus Bielefeld und Leipzig ignorieren, vielmehr feiert der Slogan jene Behauptung von der »Normalität« (auch Unbefangenheit und Unverkrampftheit genannt) der Deutschen, die ein Kampfbegriff ist, weil es sie nur um den Preis der Historisierung von Auschwitz geben kann. Das leugnet, dass etwas fortwest in Deutschland; etwas Besonderes trotz aller ähnlichen Phänomene in anderen Staaten der hochindustrialisierten Welt. Diesen fundamentalen Unterschied wahrzunehmen und zu erforschen scheint mir das Wichtigste und Fruchtbarste am antideutschen Ansatz. 

Ich war verwundert, als Stefan Ripplinger im ersten konkret-Heft nach Hermann L. Gremlizas Tod den antideutschen Ansatz als Jugendtorheit bezeichnete. Auch die gegenwärtig wieder sehr angesagte »Neue Klassenpolitik« kündet nur selten vom Plan des größeren Engagements in klassenkämpferischen Aktionen und drückt viel häufiger die Sehnsucht nach Versöhnung mit den Deutschen aus, sofern sie Lohnabhängige oder Arbeitslose sind. Dass wir dieses Land und seine Leute nicht mögen, war Credo des konkret-Kongresses der frühen neunziger Jahre und sollte gültig bleiben, auch wenn aus vielen, die das damals so sahen, deutsche Liberale, westliche Bellizisten, deutsche Flüchtlingsabwehrer, sogar Nazis und artverwandte Idioten geworden sind.