Danke, mein Führer
Aus konkret 5/05: Hitler und Goebbels blicken sechzig Jahre später auf ihr geliebtes Vaterland. Von Hermann L. Gremliza
»Der Führer gibt seiner unumstößlichen Gewißheit Ausdruck, daß das Reich einmal ganz Europa beherrschen wird.«
Joseph Goebbels
»Wir nehmen unsere Geschichte ohne Wenn und Aber an – mit ihren großartigen, aber auch mit ihren schrecklichen Seiten.«
Helmut Kohl
Helmut Kohl
»Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen«: gez. Josef Stalin, Optimist. Oder war sein Wort ein Schrei der Verzweiflung, ein Seufzer der Resignation? Hitlers Prophezeiung jedenfalls, nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad ausgesprochen, hat sich glänzend erfüllt. Was nämlich bekämen er und sein Goebbels zu sehen, wenn sie aus jenem Abort der Hölle, in dem sie, gäbe es eine, schmorten, auf ihr geliebtes Vaterland im Jahre 2005 blickten?
Deutschland, die größte Macht in einem Europa frei von Juden und Kommunisten, die beide auszurotten die Endziele gewesen waren. Den Vernichtungskrieg im Osten hatten die Bolschewiki nur scheinbar und nur um eine Gnadenfrist noch überlebt, von den materiellen Zerstörungen, der verbrannten Erde, der Ausrottung einer ganzen Generation von Sowjetbürgern und der politischen Deformation der Revolution zum »Kriegkommunismus« im »Großen vaterländischen Krieg« sind sie nie wieder zu sich gekommen.
Wie die Sowjetunion sähen die beiden auch Jugoslawien zerschlagen in seine Einzelteile, unter Führung von Deutschen, die nur die Menschenrechte im Sinn hatten, welche sich – ein Zufall aber auch! – mit der Maxime ihres »Reichsführers SS«, das Reich solle möglichst jedem Stamm Osteuropas zu seinem eigenen Kleinstaat verhelfen, mit dem sich um so leichter umspringen lasse, sehr gut vertrugen. Auch daß die strebsamsten Kollaborateure NS-Deutschlands: Kroaten, Albaner, Letten, Esten, Ukrainer, Ungarn, dem neuen Deutschland bei der Neuordnung Europas am eifrigsten zu Diensten sind, dürfte den Führer freuen.
Was er und sein Goebbels vielleicht nicht auf Anhieb verstünden, könnte das nicht enden wollende Getue sein, das ihre Nachkommen »Bewältigung der Vergangenheit« nennen. Recycling war zu ihrer Zeit so wenig ein Begriff wie Konversion. Aus Gift gewinnt man heute Medizin, aus Schwertern Pflugscharen, aus Zyklon B Weihwasser. Nicht nur im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, der bereut, als über hundert Gerechte, auch auf Erden wiegt die Moral eines Deutschen, der im Gedenken und Leiden und Schwätzen über Auschwitz gut geworden ist, die eines Juden, der bloß unter Verlust seiner Familie und seines Guts mit tätowierter Haut davongekommen ist und deshalb leider nichts zu bereuen hat, leichthin auf.
Als reuelose Verbrecher und deren nutznießende Kinder, das würde zumindest Goebbels verstehen, wäre der Weg der Deutschen zurück zur Weltmacht etwas beschwerlich geworden. Wer Absolution will, muß gebeichtet haben. Ohne 20. Juli-Feiern und ohne Ausstellung der Wehrmachtsverbrechen kein Einmarsch deutscher Soldaten in Serbien. Trauerarbeit macht frei.
Mehr und mehr Gewicht brachten die gutgewordenen Deutschen in die Schale der Weltmoral, bis ein Redakteur von Springer aus Polen berichtete, man müsse nur mit den richtigen Leuten dort sprechen, die gäben ihre Verbrechen an den Deutschen jetzt zu, und die »Frankfurter Allgemeine« einen Funktionär des russischen Pen-Clubs mit dem Credo präsentieren konnte: »Damit irgendwann einmal ein heilsames Vergessen eintreten kann, müssen erst einmal die Russen sagen, die Deutschen seien im Krieg Menschen gewesen und die Russen Tiere.«
Aha, dürfte Goebbels, immer ein bißchen schneller im Kopf, da sagen, und seinen Führer, der’s nicht gleich rafft, durch die Nachricht aufzuheitern versuchen, daß die ganze Wiedergutmacherei und -werderei der ihm einst so treu ergebenen Volksgenossen diese so gut wie nichts gekostet habe: Bis heute bekomme jeder SS-Mann noch im hintersten Litauen jeden Monat pünktlich seine Rente aus Berlin, kein einziger deutscher Richter, der des Führers Galgen mit Rassenschändern und Deserteuren geschmückt habe, sei je bestraft worden; allein in Bayern seien vier Jahre nach Kriegsende 752 von 924 Richtern ehemalige Mitglieder der NSDAP gewesen, ein Willi Geiger, der als Staatsanwalt an einem NS-Sondergericht mindestens fünf Todesurteile beantragt und bekommen hatte, sei als Richter ans Bundesverfassungsgericht berufen worden. Insgesamt durften 350.000 der Parteigenossen nach dem Krieg als Beamte und Berufssoldaten weitermachen, also bitte.
Schmunzeln müßte der Führer, hörte er, wieviel weniger gut als seinen Parteigenossen es seinen Feinden ergangen ist: daß die Kommunisten in den fünfziger Jahren wieder vor die Staatsanwälte und Richter gezerrt wurden, die sie zwischen 1933 und 1945 ins Zuchthaus oder ins KZ geschickt hatten; daß die Deutschen für die sechs Millionen ermordeten und die ungezählten ausgeraubten und vertriebenen Juden in fünfzig Jahren als »Wiedergutmachung« einen Betrag bezahlten, der – umgerechnet auf jeden Bürger der Bundesrepublik – den Wert einer Schachtel Zigaretten pro Monat ausmachte; und daß man die Zwangsarbeiter, welche die Industriellen vom Freundeskreis des Reichsführers SS sich zur Ausbeutung bestellt hatten, fünfzig Jahre lang im Elend verrecken ließ, bevor man, gezwungen von amerikanischen Anwälten, die der deutschen Exportindustrie empfindliche Schläge androhten, ein paar besonders zähen Überlebenden ein Almosen hinwarf.
Die Lehre, könnten Goebbels und sein Führer denken, die da verbreitet werden sollte, scheine gewesen zu sein, daß jeder Volksgenosse, der – gleich unter welchem Regime – mitmacht, wenn es um Deutschlands Größe geht, belohnt, und jeder, der sich weigert, bestraft wird. Nur so sei schließlich zu verstehen, was sich in Deutschlands Auswärtigem Amt abgespielt hat, als der Minister Diplomaten, die der NSDAP angehört hatten, nicht mehr durch Nachrufe im Amtsblättchen geehrt sehen wollte. Anlaß war der Tod eines ehemaligen Untersturmführers der SS. In Briefen protestierten 78 Mitarbeiter des Amtes bei Fischer, neun unterstützten ihren Minister – das Verhältnis von 1952, als zwei Drittel aller leitenden Positionen des Auswärtigen Amts von Nazis besetzt waren, hatte sich in den folgenden fünfzig Jahren auf neun Zehntel zu einem weiterentwickelt.
Wobei die Beobachter sich den Unterschied zwischen den zwei Dritteln und dem einen, das auf das diplomatische Zusammensein mit den anderen nicht verzichtete, den 78 und ihrem Minister, der die beiden NSDAP-Mitglieder Scheel und Genscher ausdrücklich geehrt sehen will, nicht schroffer vorstellen sollten als den zwischen diesen zwei Kommentatoren aus dem Springer-Verlag:
Ältere Beamte, die in der NSDAP waren, wurden in rechtlich einwandfreien Spruchkammerverfahren als »nicht belastet« eingestuft. Daß man sie jetzt per Würdigungsverweigerung signifikant renazifiziert, ist juristisch nicht zu rechtfertigen (Herbert Kremp von der »Welt«).
Die peinliche Tatsache, daß nach dem Zweiten Weltkrieg viele ausgewiesene Nationalsozialisten im Auswärtigen Dienst der jungen Bundesrepublik verblieben, ist nicht mehr zu ändern. Daß diese Diplomaten – in einem Fall ein ehemaliger SS-Mann, in einem anderen sogar ein Protegé von Reinhard Heydrich, dem Chef des »Reichssicherheitshauptamts« – aber dann auch noch geehrt werden sollen, ist ein Ärgernis (Martin S. Lambeck von der »Welt am Sonntag« als Gast in der »Jüdischen Allgemeinen«).
Der Lehrer, dem die Tatsache, daß es in den Redaktionen und Abonnentenkarteien der Springer-Presse genau so aussah und aussieht wie im Auswärtigen Dienst, nie peinlich war, und der Schüler, den die Ehrung alter Nazis stört, nicht aber der Kollege, der sie prima findet, teilen sich die Arbeit. Der eine tritt den Opfern, auf daß die Lehre vom Lohn der Mitmacher sich erfülle, noch einmal in den Hintern, der andere sagt »Oh, pardon, soll nicht wieder vorkommen«. Zivilgesellschaft nennt man das.
Springer, hm, Springer, könnte Hitler sinnieren, hört sich aber nicht jüdisch an. Gehören denn die großen Verlage nicht wieder den Juden? Mosse? Ullstein? Nein, mein Führer, nicht ein einziger, alle rein arisch. Auch kein Kaufhaus, Inbegriff der verhaßten jüdischen Geschäftigkeit, ist in jüdische Hände zurückgefallen, und damit auch hier ein Zeichen gesetzt war, gehört eines der größten heute einem SS-Mann. Nie wieder zwar wurden Rufe gehört wie »Schlagt tot den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau«, mit denen die frühesten Nazis durch die Straßen gezogen waren, aber das lag vor allem daran, daß in sechsundfünfzig Jahren Bundesrepublik kein Jude Minister war. (Nur in der DDR, die der führende Bundeswehrhochschulhistoriker des staatlich geförderten Antisemitismus überführen konnte, ist solche Rassenschande vorgekommen.) Bilder, die vordem bei jüdischen Kunsthändlern hingen, zieren heute die Sammlungen von Thyssen und Flick. »Von unserem Flick?« könnte der Selige fragen. Nein, von seinem Erben und, natürlich, von seinem Erbe.
Und was sagen solche Erben dazu? Sie sagen: »Mich hat meine Familiengeschichte im Positiven nie besonders interessiert. Und also auch nicht im Negativen.« Und also. Aus diesem Grunde daher.* So sprach einer dieser Tage in der »Taz«. Und also an der Geschichte seiner Familie und wie sie die halbe Milliarde Mark, die er erben konnte, erworben hat, nie besonders interessiert. Wen es interessiert, lese Der Nürnberger Prozeß, sechsundachtzigster Tag, Mittwoch, 20. März 1946:
JUSTICE JACKSON: Wurde Ihnen nicht eine Frage über den Empfang eines Betrags von RM 7.276.000,- von der Reemtsma-Zigarettenfabrik gestellt?
GÖRING: Nicht von der Zigarettenfabrik; sondern für die Adolf-Hitler-Spende hat sich eine Reihe von Wirtschaftlern eingesetzt, und unter anderem hat Herr Reemtsma diesen Betrag im Laufe der Jahre an mich gegeben, nach Vereinbarung mit dem Führer. Ein Teil davon ist für die Staatstheater eingesetzt worden, ein Teil für den Ausbau der Kunstsammlungen und andere kulturelle Ausgaben.
Und also antwortete der Sohn des Spenders auf die interessante Frage der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, ob es »eine Linie« zwischen »RAF-Kämpfern« und »manchem SS-Mann im KZ« gebe: »Ich sehe da eine parallele Befindlichkeit ... In der Nazizeit wurden solche Täter ermächtigt, die RAF hat sich selber ermächtigt.« Überschrift: »Das Böse ist kein Mißverständnis. Über den Umgang der Deutschen mit ihren Vergangenheiten. Ein Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma.« Als der einst seinem »Hamburger Institut für Sozialforschung« den Namen gab, verstand er das als Reverenz gegenüber dem Frankfurter Institut, dessen jüdische Gelehrte von den Empfängern der Adolf-Hitler-Spenden aus Deutschland vertrieben worden waren. Heute, da das Institut nur noch Hohn und Spott auf das Denken der Adorno und Horkheimer produziert, kann der Name als arisiert gelten.
Man muß, rät Reemtsma, inzwischen der Festredner seiner Generation, dem Bösen widerstehen. Bereits 1995 hatte sein Institut, unter dem Kunstgewerbe-Titel »200 Tage und 1 Jahrhundert«, drei Verbrechen absichtsvoll nebeneinandergestellt: Auschwitz – Gulag – Hiroshima. Das Verbrechen der Kommunisten und das Verbrechen der Amis neben das der Deutschen. Das Böse ist immer und überall, im Menschen als solchem, in den Hirnwindungen der Großen (Hitler, Stalin, Truman) oder in den Instinkten seiner breiten Masse. So schildern es die Fest-Schriften über Hitler und Speer, die der Klasse, die diese Gesellschaft trägt, die Weste weißen, und noch die wichtigen Arbeiten von Daniel Goldhagen und Götz Aly über den Anteil, den die Massen am und vom Vernichtungskrieg genommen haben, lassen zu weit in den Hintergrund geraten, wer die Musik bestellt hatte, nämlich die Klasse mit dem nötigen Kleingeld.
Allem Gerede über eine »Revolution des deutschen Volkes« zum Trotz war die Machtübergabe an die Nazis ein Projekt, das sich die deutsche Bourgeoisie organisiert hatte, um ihre Gläubiger aus dem ersten fehlgeschlagenen Griff zur Weltmacht zu prellen und die Kommunisten loszuwerden. Für solche Dienste durfte man sich schon mal mit einem größeren Scheck oder auch dem irgendwo requirierten Bild eines alten Meisters zum Geburtstag eines NSDAP-Bonzen bedanken. Daß die Bourgeoisie ihre jüdischen Klassenbrüder an die Nazis verraten mußte, fiel ihr nicht weiter schwer, zumal sie gewiß war, den größeren Teil von deren Besitz unter sich aufteilen zu können.
Mitten in Goebbels’ »totalem Krieg«, als ein Marinerichter Defätisten erschießen oder aufhängen ließ, richtete sich die Bourgeoisie in aller Ruhe auf die militärische Niederlage ein. Tatsächlich konnte ihr der Ausgang des Krieges recht gleichgültig sein. Der Nationalsozialismus hatte seinen Auftrag längst erfüllt, die Unternehmen durch Arisierung und Kriegswirtschaft »modernisiert«, die Proleten auf Trab gebracht. Unbehelligt vom gut darüber informierten Reichssicherheitshauptamt stellten die Deutsche und die Dresdner Bank, die Schwerindustrie und die Chemiekonzerne »politische Überlegungen für den Fall« an, »daß Deutschland diesen Krieg nicht durchzustehen vermag«.
Um ehemaligen Linke, die Dimitroffs Lehre vom Faschismus als einer Diktatur der Bourgeoisie aus gutem Grund verworfen und dann aber auf den Kopf gestellt haben, so daß der Nationalsozialismus als eine Diktatur der kleinen Leute, wenn nicht des Proletariats erscheint, auch mal was zum Denken zu geben, sind sie gebeten, zwei kleine Meldungen im Rahmen ihrer Lehre zu erklären: daß im Dezember 1944 die IG Farben in Lissabon mit den US-Konzernen Standard Oil und Du Pont verhandelt; und daß im Januar 1945 die Firma Telefunken beim Reichswirtschaftsministerium die Zustimmung zur Verlängerung ihres Kartellvertrags mit der Radio Corporation of America (RCA) einholt.
Selbstredend kamen die »Reichswirtschaftsführer«, die Herren vom »Freundeskreis des Reichsführers SS«, die Arisierer, Besteller von Zwangsarbeitern und Nutznießer des Programms »Vernichtung durch Arbeit« noch weniger geschoren über die »Stunde Null« als die Funktionäre des Staats und der Partei. Ein paar besonders strammen Paukern konnte geschehen, daß ein Kultusminister auf ihre Lehrtätigkeit verzichtete. Ein Vorstandsmitglied eines Konzerns hatte nichts dergleichen zu befürchten. Die paar Industriellen, die von den Alliierten in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt worden waren, wurden bald freigelassen und bekamen ihre Firmen zurück.
Heute gehören die Konzerne ihren Erben, die sich, nach einer jugendlichen Trotz- oder Trotzki-Phase, rechtzeitig mit den Alten versöhnt hatten, um die Ordnung durch jene Kontinuität der Herrschaft auszubauen und zu vertiefen, derer eine Klassengesellschaft bedarf. Die Frage, die dieser oder jener Erbe dann und wann in die Diskussion wirft: Was er wohl getan hätte an Stelle seiner Vorfahren, damals, 1933, und bis 1945, stellt nur, wer mit dem Verlauf der deutschen Geschichte – alles in allem – so gut leben kann wie Helmut Kohl. Oder wie jener Reemtsma, der von dem KZ Neuengamme, in dem die Deutschen 50.000 Menschen ermordet haben, heute sagt: »Der Name wird bleiben, und das mit ihm verbundene Ungeheuerliche bleibt eine anthropologische Erfahrung.« Um welche die Deutschen reicher geworden sind.