Scheiß Deutschland
Aus konkret 10/90: Hermann L. Gremliza über die Gründung des Vierten Reichs
Unter den Kommentatoren ist Einigkeit, daß mit der deutschen Reichsgründung die Nachkriegszeit vorbei sei. Wie die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen, war die Geschichte aller bisherigen Staaten, und der deutschen zumal, die Geschichte von Vorkriegs- und Nachkriegszeiten. Gesetzt den Fall, die Gründung des Vierten Reichs bedeute doch nicht das Ende aller Geschichte – was wird mit ihr beginnen?
Eine Vorkriegszeit. Aber Logik n'est pas un mot allemand: Das neue Deutschland wird die Geschichte Mores lehren. Kohl und Vollmer haben seine Vergangenheit abgeschüttelt und die Deutschen zu einem Volk geformt das nichts sein will als eine friedfertige, zivilisierte Weltmacht, die rund um die Uhr (und wenn es sein muß bis fünf vor zwölf) Rücksicht auf die Sorgen seiner Nachbarn nimmt. Den letzten Beweis für die Runderneuerung der Deutschen haben die friedlichen Revolutionäre von Leipzig und aus anderen Heldenstädten geliefert, als sie Freiheit verlangten und daß ein paar alte Kommunisten in den Knast gesteckt werden. Wann hat es desgleichen je in Deutschland gegeben?
Es läßt sich tatsächlich nicht bestreiten, daß dies Volk, dem es noch nie, wenn auch in unterschiedlichem Maße, besser gegangen ist als in der BRD und in der DDR, mit dem Studium von Automobilprospekten zu sehr beschäftigt ist, um nicht den Eindruck zu erwecken, es sei zivilisiert, friedlich und vernünftig geworden. Nur in existenziell ausweglosen Krisensituationen, wenn also eine Fußballweltmeisterschaft gewonnen ist oder zwanzig rumänische Flüchtlinge ins Dorf kommen, blitzt durch die aufgeschlitzte Levi's des konsumfreudigen Citoyen das alte braune Sitzfleisch. Wer aber erlebt hat, welch schwerer ökonomischer Verwerfungen es bedurfte, auch nur zehn Prozent deutscher Landtagswähler zu den »Republikanern« zu treiben, kann guten Gewissens ausschließen, daß im Falle einer Weltwirtschaftskrise noch einmal fast die Hälfte der Deutschen so stimmte, wie sie es 1932 tat, jedenfalls was die 45 Prozent für sozialdemokratische und kommunistische Parteien betrifft.
»Die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen«, raunt die Sprecherin des jungdeutschen Ordens Die Grünen im Bundestag ihrem Kanzler zu, »weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert haben«. Wenn der US-Kolumnist Rosenthal und der britische Minister Ridley etwas anderes behaupten, müssen sie sich entschuldigen oder zurücktreten. Wir haben nicht die deutsche Gesellschaft zivilisiert, um Ausländer, die unzivilisiert über unser Volk denken, unbewältigt davonkommen zu lassen. Als Exportweltmeister werden wir auch die Meinung, die wir uns über uns gemacht haben, auf dem Weltmarkt der freien Meinungen durchsetzen. Stand nicht auf einem Banner das die deutschen Revolutionäre trugen»Die Freiheit ist immer die Freiheit von Radio Luxemburg«? Das von Bonn verhängte Berufsverbot gegen Ridley, der die grundgesetzwidrige Meinung seiner Landsleute und der Mehrheit im britischen Kabinett ausgesprochen hatte, war ein gelungener Probelauf: Premierministerin Thatcher mußte die Anordnung vollstrecken und die Demonstration ihres Widerwillens darauf beschränken, sich ein paar Monate später in Prag bei den Tschechen und Slowaken dafür zu entschuldigen, daß ihre Vorgänger vor einem halben Jahrhundert den Deutschen (auch) nicht rechtzeitig entgegengetreten sind.
Wollen hat sie schon mögen, aber dürfen hat sie sich sowenig getraut wie alle die andern. Wenn der US-Außenminister nach Oggersheim fährt, um dort ein paar Mark für sein Militär zu erbetteln, das auch in deutschem Auftrag »unser Öl« billig halten soll, muß er sich anschließend vom Zentralorgan des deutschen Kapitals, der »Frankfurter Allgemeinen«, auslachen lassen:
Dröselt man das Drei-Milliarden-Paket auf, das der Bundeskanzler dem amerikanischen Außenminister Baker auf den Weg nach Washington mitgegeben hat, erscheint einiges in weniger dramatischem Licht: Eine Milliarde betrifft Bundeswehrmaterial; man wird einkalkulieren können daß davon einiges bei der vorgesehenen Reduzierung der gesamtdeutschen Streitkräfte in Depots gewandert wäre. Mit mehreren hundert Millionen werden Transporte finanziert – das sind Gelder, die größtenteils deutschen Firmen zugute kommen. Schließlich fließen große Hilfssummen an Ägypten, Jordanien und an die Türkei – teilweise in Form eines Schuldenerlasses, der früher oder später ohnehin unumgänglich geworden wäre.
Bush und Baker aber müssen sich artig bei den zivilisierten Deutschen bedanken, die so »freiwillig, schnell und großzügig gegeben« haben (»FAZ«). Und was hat Gorbatschow für die DDR erlöst? »Die Zahlung der Milliarden an Moskau erstreckt sich über vier Jahre; von den 7,8 Milliarden Mark, die für den Bau von Unterkünften vorgesehen sind, wird einiges in deutsche Kassen zurückfließen« formulieren die Frankfurter rücksichtsvoll, denn die Unterkünfte – Russen wohnen in Unterkünften, nicht in Häusern – werden ausschließlich von deutschen Firmen gebaut und einiges ist deshalb einfach alles.
Manche, die der gründlich zivilisierten Gesellschaft gründlich mißtrauen, beruhigen sich mit dem Gedanken, daß das Kapital international organisiert sei und der Erweiterung des nationalen Etablissements nicht bedürftig, da angrenzende Territorien sich noch besser ausbeuten ließen, wenn die soziale Entsorgung einer fremden nationalen Regierung überlassen bliebe. Mit dieser Politik hat man gegenüber den ehemaligen Kolonien gute Erfahrungen gemacht, und tatsächlich hat die Bundesbank sogar beim Zusammenbruch der DDR eine solche Lösung erwogen, die freilich den Nachteil hat, daß man bei Insubordination nicht die Polizei rufen kann, sondern Soldaten schicken muß. Besser – jedenfalls in der europäischen Welt – ist schon, wenn die nationale Staatsgewalt das Kapital vor Ort schützen kann und so weit reicht wie dieses.
Bis Chemnitz sofort, bis Königsberg später. »Am Grabe Kants wächst die Hoffnung«, schreibt die »Welt«: »In den Diskussionen über die Zukunft der Region Königsberg ist F. Wilhelm Christians, Aufsichtsratschef der Deutschen Bank der seit 20 Jahren wirtschaftliche Kontakte m die Sowjetunion unterhält, heute der wichtigste Partner der Sowjets. Sein Vorschlag: die Enklave Königsberg in eine internationale Freihandelszone zu verwandeln.« Unter den sechs Gründen, die Christians dafür angibt, gefällt der vierte besonders: »Viertens handle es sich um Gebiete, die niemals in der Geschichte zum russischen Kulturraum gehört hätten und die unter den veränderten Bedingungen eine eigenständige Identität erst entwickeln müßten.« Schon ist »der erste, wichtige Schritt für eine Wirtschaftssonderzone im Raum Königsberg (das heute Kaliningrad heißt) getan. Am 14. Juli hat das Parlament der russischen Unionsrepublik diese Idee aufgegriffen.« Und dann holen wir Danzig (das heute noch Gdansk heißt).
Nicht mit einer dicken Berta, sondern mit einem dürren Christians und vorgehaltenem Schuldenerlaß werden die Deutschen jene Teile der europäischen Welt erobern, die niemals in der Geschichte zum undeutschen Kulturraum gehörten. Und irgendwann werden sie die Grenze übertreten, jenseits derer die Schmerzen der Nachbarn mit freiwilligen, schnellen und großzügigen Gaben nicht mehr zu betäuben sind. Da aber so sicher wie auf eine Vorkriegszeit eine Nachkriegszeit, auf eine Hochkonjunktur eine Rezession folgt, über deren Wirkungen auf die zivilisierten Deutschen nur rätseln kann, wer gegen einen Umweltbus gelaufen ist, dürfte der Vorkriegszeit etwas folgen, was »von deutschem Boden« nie mehr ausgehen sollte und, bevor es nicht auf ihn zurückgekehrt war, auch noch nie ausgegangen ist.
Wäre es da nicht gescheit, vorauszugreifen auf jenen russischen Premierminister, der sich einmal für die Deutschlandpolitik seines Vorgängers Gorbatschow entschuldigen wird, und heute nur das zu tun, was man dann gern getan haben würde?