LK 11

literatur konkret Nr. 11

Günter Wallraff ist der Held des Jahres, der Märtyrer der Nation, die kollektive Identifikationsfigur. Der »größte Bucherfolg der Welt« führte zu hymnischen Elogen auf die Aktion, die Kampagne, den Kreuzzug. Der falsche Ali wurde beklatscht, befragt und bestaunt. Nur für die echten Türken interessierte sich niemand. Über sie wußte man Bescheid, denn Wallraff hatte geschildert, »wie ein Leiharbeiter - und Türke dazu - fühlt, wie er denkt und leidet« (»Die Zeit«). In keiner der zig Fernseh- und Rundfunksendungen, in keinem der unzähligen Interviews und Berichte wurde auch nur einem Türken die Frage gestellt, ob er sich und seine Landsleute zutreffend dargestellt sieht. Wichtigstes Thema war, ob Wallraff abgeschrieben, plagiiert, wie er sich gefühlt und die Strapazen ausgehalten habe. Die Türken blieben - wie im Buch - Staffage und wurden günstigenfalls Objekte des Mitleids. In LITERATUR KONKRET schreibt die türkische Schriftstellerin Aysel Özakin, daß sie sich auf dem Höhepunkt der Werbung für »Ganz unten« nach Holland gerettet habe, weil ihr das »mürrische, traurige, schmutzige Gesicht« auf den Plakaten Alpträume verursachte. Im September dieses Jahres verkündete Wallraff ebenfalls seinen Umzug nach Holland. Auch er hat »nur noch miese Träume«. Rolf Niemeyer berichtet über die Aufnahme des Bestsellers in der Türkei und Bernhard Schneidewind analysiert unser Verhältnis zu Ausländern. 
 
Nicht alle selbsternannten Genies, Dichter, Lyriker und Vielschreiber können auf den richtigen Weg gebracht werden. Aber einer bekommt dieses Jahr eine Chance: Er erhält den mit 30.000 Mark dotierten Karl-Kraus Preis, den der Konkret Verlag zum ersten Mal vergibt. Die Preisrede hält Hermann L. Gremliza.

Inhalt

Editorial

Ali hinter den Spiegeln von Aysel Özakin

Fragen einer Türkin zum «erfolgreichsten Buch der Welt”: Ist Mitleid der vornehmste Ausdruck für Verachtung? Sind wir alle unterdrückt und naiv?

Die Figur ist eine nationale Beleidigung von Rolf Niemeyer

Rolf Niemeyer, der in der Türkei lebt und arbeitet, über eine spezielle Form türkisch-deutscher Freundschaft: Özals Marktwirtschaft & Wallraffs Seller

Der Neger, der Türke, der Kölner Jeck von Bernhard Schneidewind

Uber den Islam wissen wir gar nichts, oder: von den Grenzen der Verkleidung beim Rollentausch

Preisrede zur Verleihung des Karl Kraus-Preises 1986* von Hermann L. Gremliza

Oder waren es die Erdnüsse? von Sabine Rosenbladt

Wer ist der Literat Hans Christoph Buch? Die Liste seiner Bewunderer ist ebenso lang wie aufschlußreich, die Rezeption seines Oeuvres stattlich

Der utopische Traum eines Wortgarnspinners von John Berger

Über Glaubwürdigkeit der Sprache in der Literatur

Wir Kannibalen müssen den Christen helfen von Hans-Christof Wächter

Ob poetisch, wissenschaftlich oder sozialkritisch: Südseeliteratur ist weiß. Die Kolonisation der »Naturkinder des Pazifik« war gründlich. Erst beute entwickelt sich eine eigenständige Literatur

Indische Küche, Kasten und Katastrophen von Martin Frank

Das Motto der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist »Indien«. Unbefangen wird ein Halbkontinent mit achtzehn Literatursprachen über einen Leisten geschlagen, als veranstalte ein Großkaufhaus Indische Wochen.

Europas Wilder Westen von Walter Klier

Unsere Medien verklären den Spanischen Bürgerkrieg zum Mythos von der schönen Revolution. Literarisch ist er ein europäischer Entwicklungsroman

Vom Dill, von der Kuh, vom Film und von der Lyrik von Oskar Cöster

Mit zwanzig Jahren stieg Arthur Rimbaud aus der Droge Lyrik aus. Daß er keine Nachahmer gefunden hat, bedauert Oskar Cöster

Computer, Genies und Größenwahn von Karl-Heinz Götze

Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften oder: die Wiedergeburt des Genies.

Krieg ist Kino, Kino ist Krieg von Mathias Bröckers

Die Generalthese Paul Virilios, französischer Theoretiker der Geschwindigkeit: Der Film ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Virginias Wünsche von Ingrid Klein

Ein Plädoyer an Liebhaber der Literatur, ihr jenseits aller vor- und nachgekauten »Meinungen« als unvoreingenommener Leser eine Chance zu geben.

Dünne Bücher von Thomas Kapielski

Über der Meterverlag, ein ganz dünnes und ein dickes Buch

Die Fliegerin von Christel Dormagen

»Jenseits von Afrika« war für viele Kinobesucher die erste Begegnung mit der Schriftstellerin Tania Blixen. Entgegen kulturpessimistischer Übereinkunft hält Christel Dormagen das für keinen schlechten Weg

Das Herz auf der Stirn von Boris Penth

Ulrich Becher, der seit 1954 in Basel lebt, war der jüngste Schriftsteller, dessen Bücher 1933 von den Nazis verbrannt worden sind

Prolet, leih mir deine Knochen von Karen Meyer, Andreas Höll

An einem Sonntag um 7 Uhr morgens verkaufte das Sonntagskind Ludwig Turek seine Lebensgeschichte

Das Dilemma des Plurals von Georg Bollenbeck

Mit seinem neuen Roman »Schinderhannes« hat Gerd Fuchs nicht den Rückzug ins Historische angetreten, sondern setzt damit seine sozialanalytische Erzählweise fort

Die Leere im Herzen der Dinge von Uwe Schweikert

Der Held in Brigitte Kronauers drittem Roman kann nicht lieben, weil er alles, was er beginnen oder aufgeben müßte, schon vom Ende her kennt - und doch ist es eine vollkommene Liebesgeschichte

König Mülas aus den Abruzzen von Italo A. Chiusano

Hermann P. Piwitt hat den Dichter, Volkshelden und Lebemann Gabriele D‘Annunzio auf die Liste der großen Schelme gesetzt. Sein neuer Roman spielt um die Wende zum 20. und meint die Wende zum 21. Jahrhundert

Kategorien haben keine Moral von Karin Reschke

Eine unheilbar kranke Mathematikerin setzt sich in ihren Tagträumen mit der Physikerin Lise Meitner auseinander, was wiederum von der DDR-Mathematikerin Helga Königsdorf erzählt wird

Was habe ich falsch gemacht? von Ingrid Strobl

Anja Meulenbelt, holländische Feministin und Vielschreiberin, hat einen Roman über ihre Mutter geschrieben, was kein Grund für die Autorin war, sich von ihrem Lieblingswort »ich« zu trennen

Was hat Ernst Jandl mit Erich Fried zu tun? von Marianne Schuller

Schwanken Publikationen über die Geschichte der Literatur zwischen Nachschlagewerk und geschichtlicher Interpretation, kommen sie als Zwitter zur Welt

Gehirnwäsche auf missionarisch von Renate Hücking

Der kenianische Autor hieß noch James Ngugi, als sein Debut, in dem es um Befreiung von der Kolonialmacht ging, 1964 in London erschien. Heute beschäftigt Ngugi wa Thiong‘o sich mit dem Neokolonialismus

Gleichung von gesund und gut von Gunter Schmidt

Der Philosoph Günther Anders ist bekannt als vehementer Kritiker der Technik im Atomzeitalter. Weniger bekannt sind seine Gedanken zur Geschichte des Fühlens

Sportliche Begattungs-Wettrennen von Michael Springer

Südamerikaner müßte man sein. So phantastisch und dabei so realistisch. In kühleren Breiten gedeihen solche Temperamente und Talente leider nicht. Ein Gegenbeispiel ist Stanislaw Lem. Auf jeden Fall seine letzten Romane

Unser aller Lust am Verborgenen von Walter Boehlich

Janet Malcolms Begabung, die richtigen Fragen zu stellen, bringt Licht ins Dunkel der vorläufig letzten »Vatermörder«-Affäre in der Geschichte der Psychoanalyse

Und bleibe ein halbe Minute von Ria Endres

Die Liebesbriefe des englischen Lyrikers John Keats an seine Geliebte Fanny Browne wurden als moralische Entgleisung verurteilt, er selber als »schwache Natur« und »triebhafter Sensualist«.

Vorgeschmack auf ein Drama von Helmut Heißenbüttel

Sind die jetzt veröffentlichten Skizzenbücher Pablo Picassos ein Schlüssel zum Verständnis des Gesamtwerks? Was zeigen sie Neues

Pop-Literatur von Paul Baskerville

Post-Tschernobyl von Werner Heine

Türkische Literatur von Cafer Kosova, Tayfun Demir