Zunehmend schrecklich

BETRIEBSGERÄUSCHE - konkret entsorgt den Sprachmüll der Medien

Die »Bildzeitung« ahnte es schon vor einem halben Jahr: Merkel-Buch erscheint im Herbst. Und tatsächlich meldete der Rest der Presse am 26. November auf allen Titelseiten, Merkel-Buch sei erschienen. Leutheusser-Westernhagen und Dinges-Gmelin kannte man, aber wer zum Teufel war Merkel-Buch? Womöglich irgendwie mit der ehemaligen Bundeskanzlerin verwandt? Und warum schafft man es sogar in die Audiothek der ARD, bloß indem man irgendwo erscheint? Einen Hinweis gab wieder einmal »Bild«: Seehofer über Merkel-Buch: Hatte in der Einschätzung zur Migration Recht. Sie oder er hatte also etwas mit der höheren Politik zu tun.

Nach zwei Tagen begriff ich endlich, dass Angela Merkel und ihre ehemalige Büroleiterin einander eine Autobiografie diktiert haben: Freiheit, 740 Seiten bei Kiepenheuer und Witsch für 42 Euro. Das Buch erschien weltweit zeitgleich in 31 Ländern, wusste »Bild«, darunter auch in Putins Russland und in Xis China. Zeitgleich und nicht etwa gleichzeitig, denn morgens um neun Uhr ist es in China ja fast schon halb sechs. Da kommt mit den üblichen dicken Vorschüssen vom Buchverlag ordentlich was zusammen. Die »Frankfurter Sonntags Zeitung« schreibt von einem »zweistelligen Millionen-Betrag« als Honorar-Vorschuss für Merkel und ihre Co-Autorin. Nun ja, der eine ausgediente Bundeskanzler*in lässt sich von Putin kaufen, die andere von allerhand Leserschaften.

Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren, überschreibt die andere ihr erstes Kapitel. Ebenso erging es mir. Doch während ich bloß um den existentiellen Vorgang weiß, muss sie sich seiner entsinnen können. Denn der Untertitel ihres Buches lautet: Erinnerungen 1954–2021. Das erste Jahr beginnt seltsamerweise mit dem Fall der Berliner Mauer. Merkel spaziert auf Schabowskis Anweisung (»sofort, unverzüglich«) über die Bornholmer Brücke in den französischen Sektor und wird von fremden Westlern zum Bier eingeladen. Kaum hat man umgeblättert, steckt sie in einer Tragetasche, weil ihre Familie von Hamburg nach Quitzow zieht. Denn ihr Vater, ein Theologe und politisch halblinks, will einer Berlin-Brandenburgischen Kirche dienen. Während er Ziegen melkt und seine Gattin Brennesseln kocht, wird das freie Deutschland Fußballweltmeister. Das Angebot des volkseigenen Konsumms lässt schmerzliche Wünsche übrig, und jeder Lehrer macht auf SED. Irgendwann will die Stasi sie anheuern, aber Angela weiß einen cleveren Trick: Sie ist begeistert und wird sofort allen Freundinnen von dieser großen Ehre erzählen. Dann schon wieder eine WM: Das Spiel der Bundesrepublik Deutschland gegen die DDR am Samstag, dem 22. Juni, ausgerechnet in meiner Geburtsstadt Hamburg, wollte ich unbedingt sehen und der Mannschaft der Bundesrepublik, des freien Teils Deutschlands, die Daumen drücken. Das konnte ich unmöglich im …

Hier endet die kostenlose Leseprobe. Das Wort haben nun die Kollegen, die sich über ein Rezensionsexemplar beugen durften. Zuvor aber ein paar Fotos: Putin erscheint mit einstündiger Verspätung zu einem hochwichtigen Termin, da er sich am hellen Nachmittag einen Kasten Radeberger aufs Zimmer bestellt hat. In einem österreichischen Park versucht die Kanzlerin, dem Präsidenten Obama einen Strandkorb pantomimisch zu insinuieren, weil ihr das englische Wort entfallen ist. Bei einem Gipfeltreffen in Sankt Petersburg nähert George Bush jr. sich von hinten und legt seine Hände auf ihre Schultern: vielleicht ein Übergriff, den sie aber eine freundschaftliche Geste nennt.

Merkel wähnte sich stets von einer höheren Einsicht in die Notwendigkeit geleitet und neigt auch im Rückblick nicht zur Selbstkritik. Dabei habe doch die misstrauische Mutloseria die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben, um sie extra unflexibel und superschwer änderbar zu machen, reimte Sascha Lobo im »Spiegel«. Das Ergebnis ist eine bröckelnde Infrastruktur von Bahn über Brücken bis Schulen; das schuldenbremsige Sparregime stellt so mit der EU-deutschigen Überbürokratie den Hauptgrund für die dramatisch eingebrochene Konkurrenzfähigkeit des Landes dar. Nicht »Freiheit« sollte ihr Buch heißen, sondern »Feigheit«.

Wie beim lauwarmen Erfolg von Merkels Buch-Promotion drängt die Wirklichkeit immer tiefer in die Gummizellen der Claqueure. Die Menschen lassen sich seltener vom Fernsehen und den Zeitungen, sie (!) fast alle in der Krise stecken, eine Realität vorgaukeln, die sich im Wohnungsmarkt, im Nahverkehr, im Gesundheitswesen, in den Schulen ihrer Kinder und auf dem Lohnzettel nicht wiederfindet. Hohe Zeit, dass das mal jemand aussprach! Moritz Eichhorn heißt er und ist stellvertretender Chefredakteur im Sicherheitstrakt »Berliner Zeitung«.

Weil emotionale Momente bei Merkel so selten sind, werden sie zwiespältig aufgefasst. Für die einen ist es der Beweis für die humane Gesinnung ihres technokratischen Politikstils, für die anderen dessen perfide Zuspitzung durch ein moralisierendes Deckmäntelchen, meinte eine Feder in der »Welt«. Um sich sodann den kaufmännischen Zwicker aufzusetzen: Durch die Brille der Ökonomen betrachtet, sieht Merkels Erbe »zunehmend schrecklich« aus, wie der britische »Economist« feststellt. Der »Economist«? Zunehmend schreck…? Bitte nicht! Aber Bullshit: Angela who? Merkel’s legacy looks increasingly terrible.

Halbwegs zufrieden gab sich immerhin das »Nachrichtenportal der katholischen Kirche in Deutschland«: Wenn sich auch angesichts der über 700 recht hölzern verfassten Seiten die Frage aufdrängt, ob ein professioneller schreiberischer Begleiter nicht hilfreich gewesen wäre, so zeigt das Buch doch eines sehr genau: Hier hat eine Politikerin aus einem gefestigten Glauben gehandelt und entschieden.

Freiheit? Ich wenn Marius Müller-Schnarrenberger wäre, verklagte K&W auf eine Lizenzentschädigung in Millionenhöhe. Von wegen »die Kappelle rumtata, und der Papst war auch schon da«. Und wer Bücher von nicht mehr oder noch nicht amtierenden regierenden Oberhäuptern lesen möchte, halte sich doch an unser aller allernächsten Robert Habeck. Seine (und Andrea Paluchs) Wolfsspuren gibt es bei Ebay schon für zwei Euro: Ein Knabe trifft im Wald einen Wolf. Die beiden fliehen voreinander. Am nächsten Morgen weiß das ganze Dorf von dem Untier und beschließt, es zu jagen. Der Knabe … (weiter bin ich noch nicht).

Joachim Rohloff