Ein seltsames Paar

Chloé Cruchaudet erzählt in dem Comic Céleste – »Gewiss, Monsieur Proust« von der ungewöhnlichen Beziehung des Romanciers zu seiner Haushälterin. Von Maria Scharff

Ein kranker Mann im Bett, neben ihm, auf dem Boden sitzend, eine Frau in Dienstmädchenkleidung. Sie fragt ihn, vorsichtig, schüchtern, was er eigentlich über die Liebe denke, die platonische Liebe. Die würde einen immer enttäuschen, so die Antwort, die Kunst jedoch, das sei etwas anderes. Ein enttäuschter Blick. Die beiden haben – und das nicht das erste Mal – die ganze Nacht im Gespräch verbracht.

Der Mann ist kein Geringerer als der Dichter Marcel Proust, die Frau Céleste Albaret, seine Haushälterin und »treue Freundin«. Die Comicautorin Chloé Cruchaudet nimmt – anders als die meisten Proust-Biografen und -Interpreten – bei ihrer Schilderung dieser ungewöhnlichen Beziehung die Perspektive der Haushälterin ein. Das zweibändige Werk Céleste – »Gewiss, Monsieur Proust« beginnt lange nach Prousts Tod. Céleste bekommt Besuch von Antiquitätenhändlern, wird zu ihrem berühmten Pflegefall ausgefragt und erinnert sich, wie alles begann.

Zunächst erledigte sie Gelegenheitsarbeiten für Proust, nachdem Odilon, Prousts Chauffeur und ihr Ehemann, sie als Botengängerin vorgeschlagen hatte. Im Herbst 1914 wurde Odilon zum Kriegsdienst eingezogen, ebenso andere Hausangestellte Prousts, weshalb Céleste immer öfter von ihm beauftragt wurde. Und das, obwohl sie laut eigener Einschätzung »nichts kann«. Schließlich übernahm sie Pflege und Betreuung des asthmakranken Hypochonders. 

Céleste stammte aus bildungsfernen Kreisen, was sich zum Beispiel darin zeigte, dass sie die zweite Person Plural nicht beherrschte – und Proust deshalb auch nicht in dieser ansprechen musste. Der Schriftsteller wiederum war in den intellektuellen Kreisen der Belle Époque zu Hause. Trotzdem entstand zwischen Proust und Céleste Albaret allmählich großes Vertrauen und sogar eine Freundschaft. 

Sie wartet auf ihn, bis er nach Hause kommt, denn er trägt nie einen Schlüssel bei sich. Sie erfindet die »Paperoles«, kleine Papierstreifen, mittels derer Proust die Korrekturfahnen seines Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit Änderungen und Ergänzungen überkleben kann. Sie hört ihm zu, wenn er von seinen Erlebnissen in den Künstlersalons berichtet. 

All das mutet zunächst an wie Sozialkitsch: War es wirklich so erfüllend, Prousts Launen ausgesetzt zu sein? Inwiefern kann man von einem Verhältnis auf Augenhöhe sprechen, wenn der eine Chef, die andere Haushälterin ist? Die Autorin vermeidet aber die Romantisierung, indem sie die altgewordene Céleste erzählen lässt, deren Erinnerungen nicht immer zuverlässig sind. Indem die Autorin einen eher ironischen und humorvollen Blick auf Proust wirft, geht sie der Falle der Mythisierung aus dem Weg. 

Tatsächlich war das Verhältnis Prousts zu Céleste etwas Besonderes. In der französischen Klassengesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts war es nicht alltäglich, wenn Klassengrenzen – bis zu einem gewissen Grad – durchbrochen wurden. Dennoch war Proust kein einfacher Dienstherr, mit all seinen Vorlieben, Gewohnheiten, Marotten und seiner empfindsamen bis exzentrischen Persönlichkeit. Dass Céleste sich aufopfernd um ihn kümmerte, sollte also, neben der allgemeinen Verehrung des Literaten, auch für sie Bewunderung auslösen.

Cruchaudet zeichnet mit Tusche in Pastelltönen. Die Panels haben keinen Rahmen, was den Szenen etwas Ineinanderfließendes verleiht und an die narrative Methode Prousts erinnert, an seinen assoziativen Stil. In ihrer historischen Korrektheit verbinden sich Bilder und Inhalt symbiotisch miteinander, Hausfassaden, Möblierung und Kleidung sind mit großer Liebe zum Detail gestaltet. Angenehm sind auch der Witz und die Ironie der Zeichnerin: Proust wird im Comic ein wenig karikiert und ist nicht der zentrale Sympathieträger des Buches, dies bleibt Céleste vorbehalten.

In einigen Sequenzen stellt Cruchaudet Prousts Schaffensprozess dar, indem sie die Assoziationsketten nachzustellen versucht, die der Dichter beim Namen einer Figur oder bei der Entwicklung einer Szene verfolgte. Vieles davon ist Spekulation, aber begründete, und demonstriert Cruchaudets intime Kenntnis des Proustschen Œuvres. 

Der erste Band der Comic-Erzählung endet mit einem Cliffhanger: Céleste und Proust zerstreiten sich, sie kündigt ihre Stelle und verlässt den Schriftsteller. Bis zum Erscheinen des Folgebandes kann man noch mal in der Recherche blättern oder ein Frühstück à la Proust einnehmen: um 16 Uhr ein Croissant und ein Tässchen starken Kaffee. 

Chloé Cruchaudet: Céleste – »Gewiss, Monsieur Proust«, aus dem Französischen von Andrea Spingler, Insel-Verlag, Berlin 2023, 124 Seiten, 25 Euro

Maria Scharff liest, schreibt und lebt (meistens) in Hamburg