Immer weiter im Normalbetrieb

In Zeiten der Pandemie wird ein alter Hut herausgekramt: die Generationengerechtigkeit. Von Tim Wolff

Es ist müßig, die notorische Arschkrampe Boris Palmer aus den Güllemassen des täglichen deutschen Tümelns zu ziehen, doch kann man mindestens ahnen, wie schrecklich das jeweils gerade ist, was das Press- und Funkwesen und die angeschlossenen Parteien als »politischen Diskurs« verklären, wenn der Tübinger Oberbürgermeister sich darin verbeißt. »Wir haben Triage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie«, verkündete er bei »Maybrit Maischberger, aber fair« oder zu welchem Volksempfang er da gerade wieder geladen war.

Denn plötzlich machte man sich überall um junge Menschen Sorgen, die man vor der Einführung der coronabedingten Minimalrücksicht auf alte nicht hatte. »Herausforderung Pandemie: Die vergessene Generation der Corona-Krise« (ZDF), »Hilferuf aus Berliner Oberschule: ›Der Tag-Nacht-Rhythmus ist beeinträchtigt, sie haben Versagens- und Zukunftsängste‹« (»Spiegel«), »Die Jugend hat Heimweh nach der Zukunft« (»FAZ«). Man müsse, so der überall schreiende Subtext, Schulen, Kitas usw. öffnen, auch wenn sich dann das Virus weiter verbreite, denn ohne diese Anstalten verkümmere die Jugend. Der Schutz der Großeltern ist dagegen eine Verlockung, der man – wie ein Kommentator der »Welt«, des Blattes für die Normalisierung rechtsextremer Ansichten, wusste – nicht erliegen darf: »Auch wenn es in einem Wahljahr verlockend scheinen mag: Wer Ältere nachhaltig vor dem Corona-Virus und seinen Folgen schützen will, darf die Jungen nicht vergessen. Denn ein zweiter Blick zeigt, dass es nicht im Interesse Älterer sein kann, Jüngere zu dominieren.«

Das hätte der »Welt«-Mann mal seiner Meute erzählen sollen, als es um »Fridays for Future«-Schulstreiks ging.

Wenn Boris Palmer also den Begriff »Triage« – der für das Versagen westlicher Gesundheitssysteme steht, die sich seit Beginn der Pandemie als unfähig erweisen, massenhaftes jämmerliches Sterben zu verhindern – nonchalant auf die Nöte junger Menschen überträgt, ist das nur die erbärmliche wie zynische Spitze der Slogans des trotz allem laufenden Betriebs. Und deswegen wie gemacht für ein Land, dem das Sterben Schutzbedürftiger noch nie ganz so wichtig war.

Trotzdem erstaunt es immer wieder, mit welch dreister Ignoranz das Leid verschiedener Gruppen gegeneinander ausgespielt wird. In Deutschland wird seit Jahren die stationäre Versorgung psychisch Kranker immer schlechter, aus Betriebswirtschaftsgründen werden Krankenhausaufenthalte verkürzt und Menschen noch im Wahn als geheilt entlassen, überdies wird keinerlei nennenswerte Vor- oder Nachsorge geleistet. Und die psychischen Nöte junger Menschen sind bestenfalls halbgare Plakatkampagnen wert. Aber wenn es darum geht, dass die Boris Palmers dieses Landes »die Wirtschaft vor Schaden bewahren« wollen, also vor geringfügigen kurzfristigen Einbußen, sind die psychischen Belastungen Minderjähriger auf einmal sehr wichtig. Wobei die einzige Idee, die der Boris, wie der Rest der Politik, zur Linderung hat, die ist: Zurück in den Leistungsdruck und Sozialkampf der Schulen in der besten aller möglichen Gesellschaften.

Schulen sind aber keine Orte des sozialen Glücks, sie sind nicht mal Orte dessen, was Bildung sein könnte. Sie sind mit notdürftigen Mitteln betriebene Systeme, die junge Menschen arbeitsmarkttauglich machen sollen (und jede Menge von ihnen aussondern, da ohnehin nicht genug bezahlte Arbeit vorhanden ist). Eine der vielen Möglichkeiten, mit dem dabei entstehenden Leistungsdruck umzugehen (neben hässlichen wie Mobbing), ist die Bildung von Freundschaften. Doch selbst wenn diese dort entstehen, werden sie bevorzugt außerhalb der Schule, wenn nicht sogar explizit gegen sie und ihre Zumutungen gepflegt.

Wenn es der Politik tatsächlich um »Bindungslücken« (Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, SPD) bei jungen Menschen ginge, die durch (im Ergebnis unzureichende) Maßnahmen gegen eine Pandemie entstanden sind, müsste sie die Schulen erst recht schließen und den Kindern und Jugendlichen Sozialkontakte außerhalb einer sinnlos aufrechterhaltenen Lehrplanerfüllung ermöglichen. Aber darum ging und geht es nicht, sondern um die Verwahrung Minderjähriger, damit die bereits arbeitsmarkttauglich gemachten Eltern unter Risiko einer Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit weiter dem Markt dienen können.

Manchmal geht es aber auch nur darum, dass der Papa aus dem mittleren und gehobenen Management, für dessen Wohlergehen Politik im wesentlichen da ist, sich nicht eine längere Zeit mit den eigenen Kindern beschäftigen muss. Er hat sie doch nur, damit das SUV gelegentlich voll wird. Deswegen waren Kitas, Horte und dergleichen auch zu keinem Zeitpunkt tatsächlich geschlossen, sondern boten »Notbetreuung«. Wobei Not als das definiert wurde, was ohne Corona Grundbedingung gesellschaftlicher Teilhabe ist: Gelderwerb. Und da kein Unternehmen in irgendeiner Weise dazu verpflichtet wurde, der Belegschaft die Betreuung der eigenen Kinder zu ermöglichen, waren alle Betreuanstalten weit mehr als zur Hälfte gefüllt. Ohne ausreichenden Schutz vor Ansteckung für die dort Arbeitenden.

Aber selbst dieser kollektive Selbstbetrug genügte schon zur »Öffnungs«-Rebellion der Meinungsmächtigen. Dann doch lieber die für den Markt unwichtig gewordenen Alten, die man sonst so gern zu vertreten behauptet, verrecken lassen, bevor man sich ernsthaft mit den Ängsten und Nöten des Nachwuchses beschäftigen muss. Zu offensichtlich macht der Ausnahmezustand das normalbetriebliche Versagen gleich zweier konservativer Institutionen: Schule und Familie. Noch vor wenigen Jahren herrschte die Ansicht vor, dass Krippen und Kitas Kinder verrückt machen, wie man am bis heute von der DDR seelisch zerstörten Osten erkennen könne. Nun sollten die Kinder nicht zu lange in ihren Familien bleiben, weil es sie mindestens psychisch zerstört. Was ja auch stimmt, dank alltäglicher, fast ausschließlich männlicher Gewalt, die aber rassistisch und klassistisch aufgelöst wird; Gewalt gibt es hierzulande nur als die der »Bildungsfernen«.

Familien und Schulen sind Orte permanenten Gesellschaftsdrucks, ohne Rücksicht auf die Gesundheit. Und ohne Corona würde sich niemand Relevantes daran stören. Unauffällige Triage ist der Normalbetrieb. Deutschland benötigt für so etwas keine Pandemie.