Durchwachsene Bilanz

Nelli Tügel über den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst

Nach einem recht heißen Warnstreikfrühling hat Verdi mit der Einigung für den öffentlichen Dienst nun schon die zweite große Tarifrunde in diesem Jahr abgeschlossen, ohne in den Erzwingungsstreik zu gehen. Anders als bei der Post hatte die Gewerkschaft zwar noch keine Urabstimmung durchgeführt, aber sehr wohl damit gedroht: Im Rahmen der Warnstreiks wurde viel und lange gestreikt, 70.000 neue Mitglieder hat Verdi so seit Jahresbeginn gewonnen. Und das Ergebnis liegt über dem, was etwa die mächtige IG Metall im vergangenen Herbst erreichte. Insofern haben die Warnstreiks gewirkt: Die Löhne steigen ab 2024 um einen Sockelbetrag von 200 Euro plus 5,5 Prozent (mindestens 340 Euro), eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung von insgesamt 3.000 Euro für 2023, eine Laufzeit von zwei Jahren.

Die Einigung liegt allerdings auch deutlich unter der Forderung, mit der Verdi so effektiv mobilisieren konnte, und wird die Inflation nicht ausgleichen. Teil des Abschlusses ist zudem eine Einmalzahlung; zuvor hatte Verdi stets betont, dass solche Zahlungen nicht tabellenwirksam und damit nicht nachhaltig sind.

Nun stellt sich eine Frage: Wieso musste die Gewerkschaft überhaupt an der »Schmerzgrenze« (Verdi-Chef Frank Werneke) haltmachen? Wollen die Gewerkschaftsbonzen aus Prinzip nicht weitergehen? Von außen lässt sich das leicht sagen. Dass nach der von den Dienstherren erzwungenen Schlichtung gleich ein Abschluss stand, zeigt indes, dass intern – also vor allem unter Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretären – eine Mehrheit offenbar nicht überzeugt war, mit einem Erzwingungsstreik mehr herausholen zu können. Denn der setzt voraus, dass man sich sicher ist: Die Streikfront wird stehen. Ob es bei der Einschätzung der eigenen Stärke Unterschiede zwischen Ehren- und Hauptamtlichen gibt und wie sich schon jetzt dafür sorgen lässt, dass bei der nächsten Tarifrunde die Selbstsicherheit größer sein wird: Das sind Fragen, die sich auch jene stellen sollten, die vielleicht mit Verdi nicht viel zu tun, aber ein Interesse daran haben, dass die Lohnabhängigen ihre Macht besser als im Moment mobilisieren können.