I Wanna Be Sedated

Ein neues Buch betrachtet Langeweile als Phänomen des Kapitalismus. Von Thomas Schaefer

Dass es mit der Langeweile eine besondere Bewandtnis hat, war dem Dichter Wilhelm Genazino ebenso bewusst wie die Tatsache, dass es dabei um Politik geht. Mehrfach setzte er sich in seinem unlängst an dieser Stelle (siehe konkret 3/23) zur Lektüre empfohlenen Notizenwerk Der Traum des Beobachters mit der Langeweile auseinander: »Gute Wirkung der Langeweile: Es weicht das Gefühl von uns, das Leben gestalten zu müssen.« Auch an prominenter Stelle, der Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises 2004, beschäftigte er sich mit der Langeweile, die er als Aufbegehren gegen den Kapitalismus und das Unwesen der verabscheuten »Erlebnisplaner« beschwor: »Laßt die Finger weg von unserer Langeweile! Sie ist unser letztes Ich-Fenster, aus dem wir noch ungestört, weil unkontrolliert in die Welt schauen dürfen!«

Die in Hannover lebende Soziologin Silke Ohlmeier kennt diesen Aspekt und streift ihn in ihrem Sachbuch Langeweile ist politisch. Allerdings setzt sie nicht nur andere Schwerpunkte, sondern würde auch Genazinos Haltung als die eines Privilegierten bezeichnen. Dessen selbstbewusster Umgang mit der Langeweile, die als Inspirationsquelle für kreative Akte und widerständiges Selbstbewusstsein dient, verdankt sich Bedingungen, über die viele Menschen in dieser Gesellschaft nicht verfügen: Das Politische am Langeweileverständnis Ohlmeiers besteht darin, dass sie Langeweile als Symptom, ja Instrument der Marginalisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen sieht. Denn die Voraussetzung, um Langeweile zum eigenen Vorteil oder Vergnügen zu nutzen, sie zumindest ohne das Empfinden eines Defizits auch nur ertragen zu können, besteht zum Beispiel in Bildung und einem angemessenen finanziellen Spielraum. Das ist besonders in der Corona-Pandemie deutlich geworden: Wer ein Haus besitzt, kann leichter mit Isolation umgehen als Menschen, die auf engem Raum leben müssen. Wer Geld hat, kann ins Kino gehen, sich Bücher kaufen und auf vielfältigere Weise am gesellschaftlichen Leben teilhaben als Menschen, die über solche finanziellen Mittel nicht verfügen.

Zahlreiche Beispiele für solche Ausgrenzungen und Diskriminierungen listet Ohlmeier in ihrem Buch auf: von Jugendlichen in den Banlieues von Großstädten über Kranke oder Behinderte, denen angemessene Angebote zu einer ihnen angemessenen Zeitgestaltung nicht zur Verfügung stehen, bis hin zu Geflüchteten, denen Langeweile als staatliche Maßnahme aufgezwungen wird. Auch ist die Langeweile »ein bewusst eingesetztes Instrument, um soziale Kontrolle und Macht auszuüben. Gelangweilte Menschen, die sich lethargisch und antriebslos fühlen, seien leichter zu manipulieren«, zitiert Ohlmeier die Soziologen Izabela Wagner und Mariusz Finkielsztein. Den Kontext von Langeweile und Mutterschaft, die sexuelle Marginalisierung und die berühmte Kinderlangeweile stellt sie jeweils auf erhellende Weise dar. So erklärt sich das angeblich zur Persönlichkeitsentwicklung organisch zugehörige Kinderleiden an Langeweile sehr profan: Kinder langweilen sich nicht, weil das nun mal so sein muss, sondern weil sie weder über die Macht noch die Erfahrung verfügen, ihre Sinnstiftungsbedürfnisse durchzusetzen.

Vielleicht ist Langeweile nicht unbedingt das »verkannte« Gefühl, als das Ohlmeier sie im Untertitel ihres Buches bezeichnet, auf alle Fälle ist sie ein oft falsch verstandenes und abgewertetes Empfinden, das der Verantwortung des Gelangweilten angelastet wird. Mit den Worten Karl Lagerfelds: »Langeweile ist ein Verbrechen. Wenn man sich langweilt, heißt das nur, dass man selber langweilig ist.« Ohlmeier dagegen sieht Langeweile als gesellschaftliches Phänomen, das Konjunkturen und der Prägung durch politisch-wirtschaftliche Verhältnisse unterliegt. So entstand der bürgerliche Ennui, vor allem jener bürgerlicher Frauen, als Folge der Industrialisierung. Sich langweilen zu können, war demnach ein Ausweis ökonomischen Erfolgs – im Fall der Frauen bedeutete der allerdings, sich langweilen zu müssen.

Heute ist Langeweile weniger verkannt als tabuisiert; keine Langeweile zu haben, ist der Statusnachweis. Situative Langeweile, die stets von äußeren Faktoren bestimmt ist, existiert eigentlich nicht mehr, seit man sich permanent via Smartphone und digitalen Medien »zerstreuen« kann – dass ebendiese Zerstreuung beabsichtigt ist und den müßiggängerischen Menschen, der eventuell vor lauter Langeweile auf dumme Gedanken kommt, zum konsumierenden degradiert, entspricht dann wieder den Ansichten Wilhelm Genazinos. Ohlmeier geht es aber mehr um die chronische Langeweile, der Menschen ausgesetzt sind, weil ihnen die Teilhabe am Reichtum des Lebens verwehrt wird. Das komplexe Phänomen der Langeweile, die nicht mit Nichtstun identisch ist, sondern mit dem Umstand, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann, bündelt Ohlmeier mit einer bekannten Definition des Langeweileforschers John Eastwood: Langeweile ist »die aversive Erfahrung, einer befriedigenden Tätigkeit nachgehen zu wollen. Es aber nicht zu können.«

Langeweile als Disziplin der Soziologie erweist sich als ergiebiger, als man auf Anhieb mutmaßen würde. Freilich wird es etwas dünn, wenn es um die Konsequenzen geht: Langeweile als Folge des Kapitalismus zu analysieren ist naheliegend, und entsprechend naheliegend ist denn auch die Forderung, diesen abzuschaffen. Bis es soweit ist, bleiben nur die alten, hilflos klingenden Appelle: »Mit diesem Buch möchte ich Mut machen, die einengenden Normen hinter der Langeweile kritisch zu reflektieren.« Wie für alle vergleichbaren Projekte gilt mithin auch für Silke Ohlmeiers Buch, dass es die eigentlich Betroffenen, die Marginalisierten, wohl kaum erreichen dürfte, was man ihm allerdings nicht anlasten kann. Wer es liest, wird dabei ein wenig klüger – und hat sich nicht gelangweilt.

Silke Ohlmeier: Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät. Leykam-Verlag, Graz/Wien/Berlin 2023, 187 Seiten, 23 Euro

Thomas Schaefer schrieb in konkret 3/23 über Wilhelm Genazinos Werktagebuch Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972–2018