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BUCH DES MONATS

Barbara Kirchner über Alte Frauen von Verena Lueken

Im Populismus ist der Vorwurf der Korruption ein beliebter Versuch, große gesellschaftliche Zusammenhänge in kleine Köpfe zu drücken. Das Publikum ist nach solchen Enthüllungen meistens blöder als vorher. »Politik ist ein schmutziges Geschäft« reimt sich für Deppen gut auf: »Ein starker Mann muss da mal aufräumen.« 

Leider beschränkt sich diese Dummheit nicht aufs Politische. Auch in der Auseinandersetzung mit Kunst ist der Vorwurf der Korruption geläufig. Wenn du über Kunst schreibst, sei unbestechlich! Wieso denn? Wer das fordert, will, dass die in der Auseinandersetzung Dargestellten (etwa: Tänzerinnen, Malerinnen …) denen, die sie darstellen (etwa: Kritikerinnen, Schriftstellerinnen …), keine Geschenke machen. Aber Künstlerinnen sind Menschen, die viel zu verschenken haben, das gehört auch zum Wesentlichen der Darstellung, Kritik, Bewertung von Kunst.

Verena Lueken lässt sich von den Menschen, um die es in ihrem Buch Alte Frauen geht, gern was schenken. Und sie erzählt sehr aufschlussreich davon. Wir erfahren zum Beispiel, dass die Autorin einen Ausstellungskatalog der in Kuba aufgewachsenen US-amerikanischen Malerin Carmen Herrera und die darin enthaltene handschriftliche Widmung mit gemischten Gefühlen betrachtet, weil die Widmung sich auf ein Wiedersehen freut, das nie zustande kam, denn die Künstlerin ist inzwischen gestorben.

Oder die vor allem durch ihre Filme bekannt gewordene, aber in vielen Medien kunsterfahrene Weltentdeckerin Ulrike Ottinger schenkt der Autorin einen Schuber »mit zwei herrlichen Text- und vor allem Fotobänden über die traurig verstorbene Freundin« Tabea Blumenschein. Als die Künstlerin, während sie das Geschenk übergibt, von der Gefährtin redet, »füllt plötzlich«, heißt es im Buch, »wieder diese Zärtlichkeit das Zimmer, die schon bei der Erwähnung des jungen Peter Kern im Raum stand. Dann schlagen wir eines der Bücher auf und sinken in ein Fest der wilden Kostüme, der Schönheit und des Glamours, des Rausches und auch der Kunst, die sich um Grenzen zu Musik, zur Mode und Performance, zum Film und Drag nicht scherte.«

Als Filmkritikerin der »FAZ« hat Verena Lueken ihre Gefühle über Jahre so gut wie nie in einer Rezension zu Wort kommen lassen; schon gar nicht, wo ein ästhetisches Argument zu haben war, das den Platz im betreffenden Satz besser ausfüllte. Warum spricht sie jetzt in Alte Frauen immer wieder davon, wie sich die Begegnungen, wie sich Geschenke anfühlen?

Von Karl Kraus stammt die Einsicht, dass Selbstbespiegelung erlaubt ist, wenn das Selbst schön ist, aber zur Pflicht wird, wenn der Spiegel gut ist. Das gilt auch für Selfies mit Bewunderten. Man kann aus Luekens Buch lernen, wie man die permanente Personalisierung aller irgendwie personalisierbaren sozialen Fragen, die sich im Influencer-Zeitalter ausbreitet wie die Pest, nicht einfach verneint, um eine bemühte Scheinobjektivität herzustellen, sondern sie gegen den Schwachsinn kehrt, den sie sonst auslöst: Indem man zeigt, wie Bewunderung Aufmerksamkeit für Kunst erhöht.

Die größte Leistung von Alte Frauen ist, dass sich sein Titel im Text verwandelt. Dieser Titel kann übel gelesen werden: Oh je, gleich zwei biologische Kategorien auf einmal, Lebensalter und Geschlecht, und das in Zeiten, in denen das Einsortieren von Menschen nach Natureigenschaften zunehmend offizielle Politik autoritärer Regierungen (auch in sterbenden liberalen Demokratien) wird. Verena Lueken denkt anders. Sie nutzt, wenn sie deutet, was »alte Frauen« sein könnten, den Umstand, dass sie nicht nur von Film viel versteht, sondern auch von Tanz, einer körperlichen, also allerlei biologische Voraussetzungen beanspruchenden Kunst, die aber unter den richtigen Vorzeichen abstrakter sein kann als gerade das Schreiben (zumal das sentimentale). Tanz eignet sich als Modell für einen erwachsenen Umgang mit Natur, ein bewusstes Ausprobieren: »Körper im Raum. Manchmal mit, manchmal ohne Musik. Manchmal nur mit den natürlichen Geräuschen, die Füße auf Böden machen, oder dem Atmen der Tänzerinnen und Tänzer.«

Das Adjektiv im Buchtitel bezeichnet im Sinne dieser Bereitschaft zum Ausprobieren nicht einfach das, was am Ende des Lebens kommt: »Wir haben übers Altern kaum gesprochen«, schreibt die Autorin. Es geht darum, dass die Porträtierten gerade nicht mehr mit Naturzuschreibungen kämpfen müssen, die sie vom Schreiben, Malen, Tanzen, Reisen zu ihren eigenen Bedingungen abhalten würden. Es gibt einen bürgerlichen Aufsteigerinnen-Feminismus Marke Sheryl Sandberg, der biologische Zuschreibungen nur abstreifen will, um desto bereitwilliger soziale Normen (vormals »aus der Männerwelt«) zu erfüllen: Fitness, Kraft und Erfolg nach den Kriterien des Erwerbs- und Berufslebens.

Verena Luekens alte Frauen sind nicht so. Sie geraten auf Umwegen und quer zur Norm in die Anerkennung ihres Tuns. Sie sind »von Beruf« eher ihre jeweils eigene Idee von sich, weniger »Malerin« oder »Schriftstellerin«. Es ist auch eine Person dabei, die der biologistische Essentialismus nicht »Frau« nennen würde. Das Buch befreit seinen Titel konsequent von Normzuschreibungsgepäck, bis man sich sogar vorstellen kann, etwas, das weder Mensch ist noch einen Beruf hat, könnte eine interessante alte Frau sein. New York, warum nicht?

Etwas Ermutigenderes als dieses Buch gibt es für Menschen, die Normzuschreibungen nicht mögen, im Moment nirgendwo zu lesen.

Verena Lueken: Alte Frauen. Ullstein, Berlin 2025, 320 Seiten, 24,99 Euro 

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