Who cares!
Care-Arbeit ist im Kapitalismus vor allem ein Verlustgeschäft und wird deshalb prinzipiell geringgeschätzt, wie die dänische Autorin Emma Holten in ihrem Buch Unter Wert eindrücklich nachweist. Von Klara Hohnke
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will, dass mehr gearbeitet wird. Dabei haben fast zwei Millionen Menschen in Deutschland einen Zweitjob, mehr als die Hälfte aller Überstunden ist unbezahlt. Vor allem Frauen sollen aus der Teil- in die Vollzeit wechseln und »die Wirtschaft stärken«. Am Kampftag der Arbeitenden warnte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke vor dem Ende des Achtstundentags. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht vor, dass die tägliche Höchstarbeitszeit in eine wöchentliche geändert werden kann. Laut Werneke »werden 13 Stunden Arbeit am Stück möglich und rechtlich zulässig«. Die Warnung kommt zu Recht, die große Empörung bleibt erschreckenderweise aus. Trotzdem werden gerade pflegende Personen nur müde die Köpfe schütteln. Welcher Achtstundentag?
Care-Arbeit kennt keine Arbeitszeitbegrenzung. Hausarbeit, Mental load, Pflege und Betreuung von Personen oder Beziehungen finden permanent statt. Und sie sind sehr ungleich verteilt. Wer online nach Bildern zu »Altenpflege«, »Pflege von Kindern« oder einfach nur »Pflege« sucht, findet meistens Fotos weiblicher Pflegekräfte. Immer lächelnd. Diese Ergebnisse sind ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Erwartungen und Stereotype. Aufgaben, die von Fürsorgeberufen übernommen werden, waren traditionell bei Frauen in der als privat und unpolitisch dargestellten Familie angesiedelt. Die Care-Arbeit der Mutter, Schwester oder Oma wurde als natürlich, nicht aber als Tätigkeit, geschweige denn produktive gesehen.
Der berechnete »Gender Care Gap«, das heißt das Gefälle der Zeitdauer, die von Frauen und Männern für unbezahlte Fürsorgearbeit aufgewendet wird, liegt in Deutschland derzeit bei 44,3 Prozent. In einer Woche verbringen Frauen neun Stunden mehr mit unbezahlter Arbeit als Männer. Der geschlechtsbezogene Unterschied existiert auch bei bezahlter Pflegearbeit. Kaum überraschend ist daher ein aktueller Befund des Paritätischen Wohlfahrtsverbands: Junge Frauen haben ein besonders hohes Armutsrisiko. Sie sind häufiger in sozialen Berufen angestellt, in denen die Bezahlung schlecht ist. Ebenso wenig überraschend rechnet das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung im Bereich von Erziehung, Sozialem und Gesundheitswesen mit Schwierigkeiten, Fachkräfte zu bekommen.
Zur systematischen Unsichtbarmachung und Entwertung von Care-Arbeit ist jetzt ein Buch erschienen. Mit Unter Wert gelingt der Dänin Emma Holten eine spannende Aufarbeitung von Fürsorgearbeit in den westlichen Wirtschaftssystemen. Doch das kapitalistische Ideologem von Arbeit, Preis und Wert ist im gesellschaftlichen Denken fest verankert. Der Verlag zitiert stolz das Magazin »Woman«: »Emma Holten klärt in Unter Wert auf, warum wir auch für Care-Arbeit ein Preisschild brauchen.« Weder DTV noch »Woman« scheinen Unter Wert verstanden zu haben. Holten betont mehrfach, dass Care-Arbeit sehr wohl ein Preisschild hat. Nur ist der Preis eine Null. Im Kapitalismus sind Preis und Wert nie dasselbe. Es ist die willkürliche Zuschreibung, die durchgerechnete, effizienzgetrimmte Einordnung von Care-Arbeit, die Holten zu Recht kritisiert. Fürsorge soll nicht einfach monetarisiert, sondern ihr gesellschaftlicher Wert anerkannt werden: »Der Kampf um Selbstbestimmung, Freiheit und ein eigenes Einkommen darf nicht zu einer Idealisierung des Arbeitsmarktes verkommen«, denn Gefühle und Fürsorge lassen sich nicht in Zahlen übersetzen. Aber was nicht passt, wird passend gemacht. Care-Arbeit bringt keine materiellen Produkte hervor. Darum wird sie als Verlustgeschäft dargestellt.
Fürsorgearbeit wird außerdem nicht anerkannt oder wertgeschätzt, weil niemand bedürftig oder auf Pflege angewiesen sein möchte. Abhängigkeit gilt als Schwäche. Und Schwäche darf sich niemand leisten. »Wenn Freiheit als die Freiheit von Fürsorge definiert wird, heißt das auch immer, dass eine unsichtbare, abgewertete Person … diese Fürsorge übernehmen muss.« Pflege wird so zu einer Konfrontation mit Körpern, die nicht, nicht mehr oder noch nicht so funktionieren, wie es die Produktionsweise für ihr Fortbestehen braucht. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Produktivität, Leistung und ein selbständiger Beitrag zur Akkumulation Status bringen, gilt es jeden Anschein von Bedürftigkeit zu vermeiden. Der notorische Tellerwäscher wird zum Millionär nur durch harte Selbstausbeutung, nicht weil er zwischendurch eine Umarmung bekommt oder jemand im Verborgenen seine Wäsche reinigt.
Spannend ist die Unterscheidung zwischen Care-Arbeit, die eine Person leisten muss, und der, die sie leisten darf. Ähnlich wie durch die neokoloniale Praktik des Brain drain sind es in den reicheren westlichen Staaten vor allem marginalisierte Frauen, die die Fürsorgearbeit übernehmen. In den letzten Jahren ist laut der Agentur für Arbeit die Zahl der Angestellten in Pflegeberufen um 22 Prozent gewachsen. Das liegt an den Fachkräften, die aus dem Ausland angeworben worden sind, um die Leerstellen im Pflegesystem zu füllen. Dadurch verlagert sich nicht nur die Pflegelücke. Care-Arbeit wird gleichermaßen zu einer ausbeuterischen Arbeit wie zu einem Privileg. Personen, die in der Lohnarbeit beschäftigt sind, werden
Zeit und Möglichkeit genommen, sich in fürsorglichen und liebevollen Beziehungen zu entfalten. Und wer zu Hause mit Hausarbeit, Pflege und Versorgung von Angehörigen beschäftigt ist, kann sich nicht gleichzeitig auf dem Arbeitsmarkt verausgaben. Care-Arbeit führt zum ökonomischen Fortbestehen des Systems, aber zu individueller Armut. Das ist der Widerspruch der Fürsorge: »Unwert schafft Wert.«
Angesichts der Debatte um mehr Arbeit ist Unter Wert hochaktuell, doch die nötige radikale Neuaushandlung des Wirtschaftssystems wird es kaum geben. »Deutschland wird wieder ein Land werden, in dem Fleiß, Leistung und Erfolg anerkannt und belohnt werden«, verspricht Kanzler Merz. Man darf bezweifeln, dass er dabei an die Care-Arbeitenden dachte. Vielleicht klatschten wir statt dessen alle noch einmal dankbar vom Balkon.
Emma Holten: Unter Wert. Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt. Aus dem Dänischen von Marieke Heimburger. DTV, München 2025, 288 Seiten, 22 Euro
Klara Hohnke schrieb in konkret 7/24 über das kapitalistische Interesse am Gender Pay Gap
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