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Kritik der Politik – kurzer Lehrgang

Zum hundertsten Geburtstag von Johannes Agnoli ist ein Buch über seine politische Theorie erschienen. Von Axel Berger

Der Marxismus ist nicht die Lehre von den Revolutionen, sondern die Lehre von den Konterrevolutionen«, schrieb einst Amadeo Bordiga. Denn, so der von Stalin geschasste erste Vorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens weiter, »alle wissen sich zu bewegen, wenn sich der Sieg abzeichnet, jedoch nur wenige wissen dies zu tun, wenn die Niederlage kommt, sich kompliziert und andauert«. Isolation und Verzweiflung, vor allem aber fehlende analytische Klarheit, und nicht etwa plumpe Vorteilsnahme, seien die Grundlagen des Opportunismus. In der Tat war und ist das Wühlen der wenigen Anhänger/innen einer klassenlosen Gesellschaft in nicht-revolutionären Zeiten meist weniger von historisch-materialistisch begründeter Strategie als von taktischen Winkelzügen geprägt: Wählen des kleinsten Übels, Märsche durch fremde Institutionen, fragile Bündnisse mit ihren eigentlichen Gegnern, isolierte Kampagnen gegen die größten Zumutungen, (sub-)kulturelle Selbstbehauptung.

Einer der wenigen marxistischen Intellektuellen, der sich substantiell mit diesem Dilemma und seiner Basis – der Analyse des bürgerlichen Staats – befasste, war Johannes Agnoli. Am Anfang stand für ihn die Illusion: »Es liegt eine Faszination in der Vorstellung, das Proletariat bemächtige sich gerade der demokratischen Staatsorgane, die von der Bourgeoisie zwar in die Geschichte eingeführt, von ihr aber aufgegeben und verraten worden sind«, schrieb der 1925 in den italienischen Dolomiten geborene und jahrelang an der Berliner Freien Universität lehrende Politikwissenschaftler 1968; um anschließend zu verdeutlichen, dass er diese Faszination ganz und gar nicht teile.

Überraschend war das nicht. Im Jahr zuvor hatte der bis dahin weitgehend unbekannte Agnoli mit seiner Schrift Die Transformation der Demokratie einen der zentralen Orientierungspunkte für die im Entstehen begriffene Außerparlamentarische Opposition (Apo) vorgelegt. Darin hatte er die Tendenz des parlamentarischen Verfassungsstaates zur »Involution«, der Transformation demokratischer Rechte zur Nutzung als reine Herrschaftstechniken, aufgezeigt. Der Sinn bestehe letztlich darin, heißt es weiter, »einen Zustand des sozialen Friedens zu garantieren, in dem gesellschaftlicher Antagonismus und politische Opposition entkräftet« würden. Nicht im Parlamentarismus, sondern nur in den Kämpfen gegen ihn könnten die Besitzlosen also ihre Emanzipation erreichen.

Acht Jahre später legte Agnoli nach. Sein zweites Buch, Der Staat des Kapitals – das Gesamtwerk besteht neben diesen beiden Schriften lediglich aus kaum zwei Dutzend Aufsätzen sowie seiner von einem Studenten mitgeschnittenen Abschiedsvorlesung –, stellt trotz des geringen Umfangs von kaum siebzig Seiten die bis heute vielleicht konziseste marxistische Analyse des Wesens des »ideellen Gesamtkapitalisten« (Friedrich Engels) dar. Dieses Wesen bestand für ihn vor allem darin, dass die Handlungsfähigkeit des formal gegenüber einzelnen gesellschaftlichen Gruppen autonomen Staats völlig »vom Zwang zur Verwertung und Akkumulation« abhängig sei. Damit aber wäre die grundsätzliche Richtung staatlicher Politik, allen partikularen Aushandlungsprozessen zum Trotz, immer gesetzt: »Die Herren des Staates üben Macht über das Volk aus; und keine gesellschaftliche Herrschaft, die sich gegen die Herren der Ökonomie kehren könnte.« Nur der »auf der gesellschaftlichen Ebene und in der unmittelbaren Produktion vorangetriebene Angriff gegen das Kapital und seinen Organisator« könne den »regenerativen Charakter« des Kapitalismus sprengen, so Agnolis Fazit.

Angesichts solcher Sätze verwundert es nicht, dass sich der 2003 Verstorbene in den Jahren der Krise und der Domestizierung der Linken zu den vielen Vergessenen gesellt hat. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Politologe Michael Hewener zum hundertsten Geburtstag Agnolis nun eine kurze Sammlung von Texten samt biografischer Einleitung vorgelegt hat. Hewener, der auch für die neue fünfbändige Werkausgabe mitverantwortlich ist, beschreibt darin die Genese des jungen Faschisten und Wehrmachts-Freiwilligen zum Marxisten und dessen politisches Wirken in der Apo und an der Universität, gibt aber auch einen Einblick in die »Kritik der Politik«, als die Agnoli seine Analysen und Interventionen stets verstanden wissen wollte.

Wozu aber sollte man sich diese aneignen? Zum Beispiel, um sich der überall in den westlichen Demokratien stattfindenden autoritären Wende, im Agnolischen Jargon: der Involution, bewusst zu werden. Mit Sicherheit aber, um sich auch in der Niederlage zumindest im Denken weiterbewegen zu können: »In der dürftigen Zeit finden wir (das Denken) nur in der Negation«, gab Agnoli 1990 den Leserinnen und Lesern von konkret mit auf den Weg. Denn: »Die Utopie, die aus der Destruktion aller Strukturen der Ungleichheit, der Unterdrückung, der Herrschaft entsteht, das ist heute der einzig mögliche Ausweg aus der sich anbahnenden Vernichtung.« (Beide Zitate stammen aus konkret 2/90.) Es sind Sätze wie diese, die man allzu lange nicht vernommen hat.

Michael Hewener (Hg.): Johannes Agnoli oder: Subversion als Wissenschaft. Dietz, Berlin 2025, 176 Seiten, 14 Euro

Axel Berger schrieb in konkret 5/25 über die Folgen des Klimawandels für den afrikanischen Kontinent

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