Ungeliebter Informant
Nach zwölf Jahren Haft und Isolation ist Julian Assange frei. Potentielle Whistleblower werden die Affäre als Warnung verstehen. Von Peter Kusenberg
Seit 2019 schmorte der Gründer der Medien-Organisation Wikileaks im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, zuvor hatte er beinahe sieben Jahre lang in der Botschaft Ecuadors verbracht, um nicht verhaftet und an die Sicherheitsbehörden der USA ausgeliefert zu werden, wo ihm höchstrichterlich eine lebenslange Haftstrafe drohte. »Genug ist genug«, meinte US-Präsident Joe Biden, und setzte sich dafür ein, dass Assange einem Deal zustimmte: Der Journalist bekannte sich in einem Anklagepunkt für schuldig, dafür wurde seine in England abgesessene Haftzeit mit der zu erwartenden US-Haft verrechnet.
Assange hatte ab 2006 via Wikileaks Hunderttausende Dokumente über Regierungen, Unternehmen oder religiöse Organisationen veröffentlicht. Damit erntete die von wenigen IT-kundigen Journalisten betriebene Organisation frühzeitig Drohungen und juristische Klagen. Der spektakulärste und folgenreichste Fall sei hier kurz skizziert. Nach der Veröffentlichung eines umfangreichen Videofilms namens »Collateral Murder« im April 2010 geriet Assange ins Visier der US-amerikanischen Geheimdienste. Der Film zeigte kriegsverbrecherische Handlungen von Angehörigen der US-Armee im Irak im Sommer 2007. Die Whistleblowerin Chelsea Manning hatte den Film an Assange übermittelt, der ihn an seine Medienpartner weiterleitete. Auffällig war die Freude der US-Soldaten an der aller Wahrscheinlichkeit nach ungerechtfertigten Tötung von zehn Menschen, darunter zwei europäische Journalisten. Die US-Behörden warfen Assange vor, er habe mit seinen Veröffentlichungen Kollaborateure des US-Militärs gefährdet. Die rechtliche Grundlage für die Strafverfolgung bildete ein Espionage Act genanntes Gesetz von 1917, was Medien aller Couleur besorgte: Sollte Assange ausgeliefert und verurteilt werden, schüfe die US-Justiz einen Präzedenzfall für die Behandlung unliebsamer investigativer Journalisten, die regierungskritisches Material publik machen.
Ab 2010 sah sich Assange mit andersartigen Klagen konfrontiert, etwa dem Vorwurf der Vergewaltigung in zwei Fällen, was dazu beitrug, den »aufgeblasenen Dilettanten« (Lars Quadfasel in konkret 8/19) zu einer weithin unliebsamen Person zu stigmatisieren. Der für seine Haft verantwortliche britische Richter Michael Snow attestierte ihm, ein »Narzisst« zu sein, was dazu passt, dass Assange vor seiner Isolation in der ecuadorianischen Botschaft Fernsehshows fürs russische Staatsfernsehen RT moderierte, wo er Erzfieslinge empfing wie den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah oder den Holocaust-Leugner Israel Schamir, und während seiner Botschaftszeit parlierte er mit dem britischen Brexit-Politiker Nigel Farage. Die Autorin Veronika Kracher bezeichnete den Australier in einem Beitrag für die »Jungle World«, haltlos übertrieben, als ein »Idol des Rechtsextremismus«. Wenn, dann ist dieser Status auf die Wertschätzung zurückzuführen, die Assange bei rechtsradikalen, vor allem rechtslibertären Publizisten zunehmend genießt, weil seine Aufdeckungen teilweise die Schurken der ungeliebten Fraktion trafen.
Einige linke Autoren sehen in Assange eher einen Aufklärer, der, »wenn überhaupt, bei mächtigen Verbrechern für die gesamte Menschheit spioniert« hat (Martin Sonneborn) und daran arbeitete, »die Machenschaften der Herrschenden aufzudecken«, wie es Felix Klopotek und Axel Berger in einer Replik auf Kracher und Kollegen in der »Jungle World« formulierten. Wikileaks, trotz fehlender Kritischer Theorie, war und ist ein Mittel, um Öffentlichkeit herzustellen. Investigation, die Aufdeckung schädlicher und inhumaner Handlungen ist – im Ideal, nicht im Karl Krausschen Sinne – der Kern journalistischer Arbeit. Assange hat redlich Dokumente weitergeleitet, um die Öffentlichkeit zu informieren – in welch unsympathischem Kontext auch immer. Der deutsche Wikileaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg charakterisierte seinen langjährigen Mitstreiter und Freund im Buch Inside WikiLeaks (2011): »So einfallsreich. So energisch. So brillant. – So paranoid, so machthungrig, so größenwahnsinnig.«
Zur Causa Assange schrieb Hermann L. Gremliza in konkret 5/19: »In welchem Kodex welchen internationalen Rechts ist die Veröffentlichung geheimer Dateien, die die Tötung von Zivilisten (durch amerikanische Truppen in Afghanistan und anderswo) dokumentierten, eine Straftat – und nicht etwa ein Grund, dem Anzeiger des Verbrechens sämtliche humanitären Preise zu
verleihen …? Für die Rechte einer wehrlosen Menschheit hat er mit seinem ›Verrat‹ mehr getan als alle seine Feinde. Und wenig genug gegen das, was die Achsen des Guten täglich an der Menschheit verbrechen.« Aufklärung tut not. Ohne den Informanten Deep Throat wüsste niemand von Watergate, ohne die Veterinärmedizinerin Margrit Herbst wäre die Rinderseuche BSE zumindest noch längere Zeit vertuscht worden, und die »Pandora Papers« zeigten, wie Millionäre und Milliardäre ihre Vermögen vor der Versteuerung verstecken.
Die jammervolle, von behandelnden Psychologen als Folter beschriebene Behandlung Assanges wird aber die vor den Finanzämtern abschreckende Wirkung erzielen, die sie sollte. Der britische Journalist Alan Rusbridger schrieb auf X, dass Assanges Freilassung eine gute Nachricht gewesen sei, doch: »Seine Behandlung war eine Warnung an Journalisten und Whistleblower, in Zukunft zu schweigen.«
Peter Kusenberg schrieb in konkret 6/24 über das Album »Poptical Illusion« von John Cale