Die Kinder aus Korntal
Dokumentarfilm. Regie: Julia Charakter; Deutschland 2023,
90 Minuten, ab 26. September im Kino
Dunkel, Nebel, Winter, ein Zug fährt kreischend ein. Detlev Zander wartet auf dem Bahnsteig. »Manchmal hab’ ich mich gefragt, wie ich das überlebt hab’. Dass ich heute wirklich offen reflektiert darüber sprechen kann.« Er ist viel unterwegs, ist Sprecher des Beteiligtenforums für die Betroffenen von sexuellem Missbrauch der Evangelischen Kirche Deutschlands.
Zander ist einer der Protagonisten in Julia Charakters Debüt-Dokumentarfilm »Die Kinder aus Korntal«. Dank Zander kam 2013 heraus, dass sich in der blitzsauberen Kleinstadt zwischen Stuttgart und Ludwigsburg, dem Zentrum des württembergischen Pietismus, von den Fünfzigern bis in die 2000er Jahre einer der größten Missbrauchsskandale der evangelischen Kirche ereignet hat. 148 Fälle sind in den drei Heimen der dort ansässigen pietistischen Brüdergemeinde bekannt und bestätigt. Die Dunkelziffer wird höher geschätzt; die Zahl der Täterinnen und Täter beträgt 81, acht davon gelten als »Intensivtäter«.
Über vier Jahre hat die Regisseurin zusammen mit ihrem Kameramann Jonas Eckert ihre Protagonisten begleitet. In langen, ruhigen Einstellungen, mit gedeckten Farben in Grautönen und mit minimalistischen Saxophonklängen haben sie Raum gegeben für das Ungeheuerliche, das erzählt wird. Sparsam eingesetzte Graphic-Novel-Elemente erlauben, sich als Zuschauer in die Gefühle der Kinder zu versetzen. »Die Atmosphäre war sehr hart, kalt und sehr von Religiosität geprägt«, berichtet Zander, der 1964 in das Hoffmannhaus, das »Große Kinderheim«, in Korntal kam. »Wir waren einfach Menschenmüll, wir waren nichts wert für die. Einerseits für die Erzieherinnen und andererseits aber auch für die Gemeinde nichts.«
»Bei uns sind es Kinder gewesen, die von niederen oder sehr niederen Schichtungen kamen, auf Grund dessen waren die Startchancen dieser Kinder einfach schlecht«, sagt Pfarrer Johann Hägele, geistlicher Vorsteher der Brüdergemeinde von 2010 bis 2022, im Film. »Wenn man weiß, dass Bildung eben auch Biografie prägt, das weiß man längst, dann weiß man auch heute, dass eine gewisse Zahl der damaligen Kinder in ihrem Leben in einer sozialen Tiefe geblieben sind.«
Die Heime waren Vorzeigeobjekte, verfügten über eine eigene Schule, eigene Schwimmhalle, eigene Turnhalle und eigene Reithalle mit hundert Pferden. »Wir mussten natürlich den Pferdestall ausmisten, durften aber nicht reiten, sondern nur die Stadtkinder durften reiten«, berichtet Zander. »Rotkehlchen«, »Buntspechte«, »Lerchen« und »Schwalben«: Die Namen der Kindergruppen lassen an eine idyllische, freundliche Welt denken, »aber es war alles verlogen«. Statt der Gutenachtgeschichte gab es Schläge mit dem Kleiderbügel, »wir wisset net, warum«, »von morgens bis abends« wurde man »runtergemacht«. Beim »Rotkehlchen« herrschte ein »sektenhaftes Regime«: »Wir hatten ständig Angst, tagsüber und nachts, wir sind auf dem Bett gelegen und haben geweint, wenn die Tante Gerda das gehört hat, kam sie und hat uns geschlagen.« Teddybären wurden zur Strafe verbrannt, Jungs mussten Schwerarbeit auf den privaten Baustellen des Heimleiters, auf dem Acker und im Stall leisten. Sie wurden im Fahrradkeller regelmäßig vom Hausmeister anal vergewaltigt. Auf einer Werkbank liegend habe er sich »weggebeamt«, so Zander, »hoffentlich ist es bald vorbei«. Als er sich »Tante Gerda« anvertraute, steckte sie ihm Watte in den Popo und sagte: »Wenn du irgendwas erzählst, dann knallt’s.« Sogenannte »Patenfamilien«, die vorbeikamen, konnten sich »gleich ein Kind mitnehmen«. Vorher bekamen die Kinder noch ein sauberes Unterhöschen an. Auch dort wurden sie missbraucht, vor den Augen der Ehefrau oder den Ohren der blinden Mutter: »Stell dich nicht so an!«
»Man musste sich vor uns fürchten, wir waren Abschaum«, berichtet Thomas Mockler. Die Kinder, die meisten von ihnen Sozialwaisen, mussten in Zweiergruppen durch das »heilige Korntal« laufen, durften den Betsaal nur durch die Hintertür betreten. Zander wurde von Pfarrer Grünzweig geschlagen: »Du bist Teufelsbrut!« – »Gott ist das Wichtigste, alles, was man macht, muss Gott gefallen.« Unter dem Deckmantel der Frömmigkeit konnten sexueller Missbrauch, Gewalt, Demütigung, Schweigen, Wegsehen und Bigotterie offenbar unkontrolliert gedeihen. Die Aufklärung der Verbrechen verlief äußerst schleppend, Zander wurde beschimpft und bedroht, finanzielle Entschädigung der Opfer lange mit der Begründung verweigert, das würde ja nichts ungeschehen machen. Nach acht Jahren ließ die Brüdergemeinde vor jedem ihrer drei Heime eine Stele aufstellen, Schuldeingeständnis und Bitte um Vergebung inklusive. Auch Bewohner Korntals fühlten sich schwer betroffen: »Dass die Leute einfach beschuldigt worden sind, das war verletzend für uns.«
»Was würde Jesus jetzt machen?« fragte sich Vorsteher Hägele. Der Aufarbeitungsprozess sei schwierig gewesen: »Manche waren schwer in der Lage, überhaupt Termine einzuhalten. Wenn man mit tief reflektierten Menschen am Tisch sitzt, kann man anders solche Prozesse beleuchten wie mit Menschen, die Schwierigkeiten in der Artikulation haben. Wenn sie sozial immer unten sind, dann haben sie ein Leben lang wenig Wertschätzung erlebt.« Wohl wahr. »Den Missbrauch nach dem Missbrauch« nennt Zander das. »Betroffenen eine Stimme geben«, diese Floskel mag er nicht. »Betroffene haben eine Stimme, Menschen mit Gewalterfahrung haben eine Stimme, nur sie werden nicht gehört«. In diesem Film kann man sie hören.
Sabine Lueken