Flurbereinigung

Kost' ja nichts: Der Bundespräsident hat im italienischen Marzabotto seine wohlfeile Entschuldigungstour fortgesetzt. Von Rolf Surmann

Ende September reiste Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit dem italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella nach Marzabotto in der Nähe von Bologna. Anlass war der 80. Jahrestag eines SS-Massakers in diesem Ort, bei dem fast 800 Menschen ermordet wurden – ein Kriegsverbrechen, das ähnlich in vielen Dörfern und Städten Italiens, Griechenlands und anderswo begangen worden war. Doch dieser Besuch folgte nicht der üblichen Erinnerungsroutine, zu der die deutsche Politik sich nach Jahrzehnten absoluter Ignoranz vor zirka zwanzig Jahren durchgerungen hat. Er wirkte wie der Sprung durch einen brennenden Reifen.

Der Grund dafür liegt nicht allein im Verbrechen selbst, sondern auch in seinen Folgen, deren Kern die Weigerung der Bundesrepublik ist, die Opfer der deutschen Kriegsverbrechen zu würdigen und für ihr Leid zu entschädigen. Getrieben durch die Empörung der Angehörigen der Opfer und durch juristische Auseinandersetzungen, ließ man sich schließlich zu einer Symbolpolitik herab, die das Leid routiniert beklagte, aber jegliche materielle Entschädigung verweigerte. Seinen Höhepunkt erreichte dieses Vorgehen im letzten Jahr, als es der Bundesrepublik durch Berufung auf die Rechtsfigur der Staatenimmunität, die Staaten gegen im Ausland ergangene Verurteilungen schützt, gelang, die Urteile italienischer Gerichte zugunsten der Opfer der Massaker außer Vollzug zu setzen. In dieser Situation blieb dem italienischen Staat auf Grund der dortigen Rechtslage nichts anderes übrig, als die Opfer der deutschen Verbrechen selbst zu entschädigen (siehe konkret 11/23). Mit der Inanspruchnahme der Staatenimmunität für Verbrechen gegen die Menschheit in einer Zeit, in der angeblich wegen Menschenrechtsverletzungen Kriege geführt werden, für die sich der politologische Begriff Menschenrechtskriege eingebürgert hat, tritt der Fake-Charakter der deutschen Aufarbeitungs- und Erinnerungspolitik in schroffer Deutlichkeit zutage. 

Steinmeiers neuerliche Bußtour war keineswegs Routine, auch wenn – wie zuletzt seine Rede zur Fertigstellung des Turms der Potsdamer Garnisonkirche gezeigt hat – solche Auftritte für ihn mittlerweile zum politischen Alltag gehören. Mal spricht er – abwägend – für die Rekonstruktion des Alten, mal – einfühlsam – für den Schlussstrich unter die Rechte der Opfer dieses Alten. In Marzabotto hat er dieses gespaltene Geschichtsverständnis noch einmal zugespitzt.

Er maßte sich an, den Nachfahren der Opfer, in deren Familien teilweise über Jahre das erlittene Leid aus psychischer Not beschwiegen worden war, im Detail zu erzählen, was die Deutschen ihren Familienmitgliedern angetan hatten. »Sie sperrten die Menschen in Häusern ein und warfen Handgranaten hinein. Brannten Ställe, Wohnhäuser, Kirchen, Kapellen nieder. Sie kannten kein Erbarmen, keine Menschlichkeit, nicht einmal für Frauen, Priester, betagte Männer. Und auch nicht für Kinder, so viele Kinder.« 

Angesichts dieser Schilderung fragt sich, warum deutsche Regierungen die Überlebenden und die Nachfahren der Ermordeten über Jahrzehnte ignoriert und ihnen letztlich mit Erfolg jegliche Entschädigung verweigert haben. Doch diese Frage stellte sich Steinmeier nicht. Statt dessen belästigte er das Publikum mit seinem Gemütszustand: Er empfinde Trauer und Scham angesichts der Verbrechen. Aber was gibt ihm als Repräsentanten der ignoranten Tätergesellschaft das Recht, Trauer für sich zu reklamieren? 

Steinmeier ging noch einen Schritt weiter. Für ihn ist »der Schmerz noch größer, weil die meisten Verbrechen nie gesühnt wurden. Das ist die Zweite Schuld, die wir Deutsche auf uns geladen haben.« Sehen wir von dem rhetorischen Kniff ab, Zeitgeschichte und Gegenwart à la Baerbock kurzzuschließen, so ist das nonchalante Schweigen über die gezielt betriebene Politik der Entschädigungsverweigerung, die kaum ein Jahr zuvor in Italien ihren Endsieg gefeiert hatte, im Bezug auf den Begriff der »Zweiten Schuld« ein geradezu zynisches Exempel deutscher Realitätsverweigerung. Was immer schon erkennbar war, tritt hier überdeutlich hervor: Erinnerung ist eine Funktion der deutschen Interessen.

Doch diese Haltung prägt nicht allein die Politik. Die Medien, sofern sie sich nicht ausschweigen, verbreiten kaum etwas anderes. So wurde in einem Bericht der »Tagesschau« die Italien-Korrespondentin nach der Vorgeschichte von Steinmeiers Besuch gefragt. Sie wusste zu berichten, dass der damalige Bundespräsident Johannes Rau bereits 2002 – also 57 Jahre nach Kriegsende! – aus demselben Grund in Italien war und damit die Aufarbeitung der dortigen deutschen Verbrechen begonnen habe. Das war für sie, kaum überraschend, der Anfang einer Erfolgsgeschichte, die mit Steinmeiers Rede und dem folgenden allseitigen Beifall ihren krönenden Abschluss gefunden hat.

Es ist das alles längst keine Überraschung mehr. Man denke nur an den »jüdischen Kronzeugen« Norman Finkelstein, dessen haltlose Behauptung im Zuge der Kontroverse über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit, die jüdischen Opfer seien längst schon entschädigt worden, die Medien elektrisierte und zur Aufforderung an die Politiker führte, den Entschädigungsbetrügern nicht nachzugeben. Weitgehende Geschlossenheit bei solchen Themen gehört einfach zur DNA dieser Gesellschaft. Aber warum in Italien diese Anpassungsbereitschaft von Politik und Gesellschaft? 

Ein Grund mag sein, dass im letzten Jahr etwa zur Zeit des deutschen Siegs in der Entschädigungskontroverse die letzten drei Überlebenden des Massakers von Marzabotto gestorben sind. Generationsspezifisch markiert das zweifellos einen Einschnitt. Doch leben wir bekanntlich auch in der Ära der »Zeitenwende«. Das heißt, ein möglicher neuer Weltkrieg tritt ins Blickfeld. Zu seinen Voraussetzungen gehört, die Themen des letzten Weltkriegs wenigstens pro forma abzuschließen. Das gilt für Deutschland ebenso wie für das EU- und Nato-Partnerland Italien.

Rolf Surmann schrieb in konkret 10/24 über den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche