Deutscher Gehorsam
Mit seiner Ideengeschichte Die Deutschen und der Gehorsam beleuchtet Martin Wagner eine ganz besondere Beziehung. Von Matthias Becker
Dass die Deutschen eine »schwierige« Beziehung zu Macht und Autorität haben, gilt außerhalb des deutschen Planeten für ausgemacht. Insbesondere in den Ländern der Alliierten gelten sie als unterwürfig und machtverliebt, gerne bereit, nach unten zu treten und nach oben zu buckeln. Das sind Klischees, natürlich, aber haben sie einen wahren Kern? Der Wunsch, gehorchen zu dürfen und Gehorsam zu verlangen, ist sicher keine deutsche Besonderheit. Er spielte hierzulande allerdings eine besondere Rolle. »Der Deutsche gehorcht gern«, hieß es bündig im 18. Jahrhundert, auf Grund seines »folgsamen Charakters«.
Der Germanist Martin Wagner legt eine Diskursgeschichte der letzten drei Jahrhunderte vor, mit der er nachvollziehen will, »wie über den Gehorsam gesprochen und nachgedacht wurde«. Damit ist bereits eines der beiden Kardinalprobleme dieser Untersuchung angesprochen. Es geht darin nicht darum, ob die Deutschen ihren diversen Obrigkeiten mehr und eifriger als andere Nationen gehorchten, sondern der Autor zeichnet Bedeutungsverschiebungen nach. Weil aber in der Öffentlichkeit irgendwann jeder Standpunkt und auch sein Gegenteil von irgendwem geäußert wird, entsteht ein diffuses Bild. Lob und Kritik am Gehorsam treten im Diskurs gleichzeitig auf, anders als in der geschichtlichen Wirklichkeit, die Martin Wagner in seiner Ideengeschichte eben aussparen will.
Das andere, verwandte Problem besteht darin, dass der Autor den Begriff des Gehorsams so weit fasst, dass er sich auf jedes konforme Verhalten bezieht, gleich ob bei der Arbeit, in der Familie oder beim Militär. Die »Ideengeschichte« einer so grundlegenden sozialen Tatsache ufert naturgemäß aus.
Immerhin wird deutlich, dass das Verhältnis von Reaktion/Reaktionärem und Autorität/Gehorsam verwickelt ist. Staatliche Autorität wird seit der Aufklärung von vielen Publizisten als Voraussetzung begriffen, um Herrschaft und Privilegien abzubauen. »Die Geschichte des zivilisatorischen Fortschritts in der Moderne ist die Geschichte einer Substitution von personalem durch legalen Gehorsam«, behauptet Martin Wagner – Gleichheit vor dem Gesetz gibt es nur, wenn alle Bürger gleichermaßen gehorchen, ohne unterwerfende Staatsmacht keine Demokratie.
Die antidemokratische Reaktion im 19. Jahrhunderts hielt Gehorsam jedenfalls nur bedingt für eine Tugend. Sie fremdelte mit der bürokratischen, angeblich abstrakten und lebensfremden Staatsherrschaft. Als Alternative propagierte sie charismatische Staatsmänner, die kraft ihrer Persönlichkeit und Stärke legitimiert seien, sich über Gesetze, Verfahrensregeln und Normen hinwegzusetzen. Die Sehnsucht nach dem starken Mann entspricht einer erneuten Personalisierung von Herrschaft, eine Quelle dessen, was oft als »konformistische« oder »autoritäre Revolte« verrätselt wird. So zieht sich die rechte Kritik an Anpassung und Staat über den Nationalsozialismus bis zum Rechtspopulismus von heute.
Martin Wagner verweist auf historische Begebenheiten nur, um Thesen zu illustrieren. Die strukturelle Schwäche des demokratisch orientierten Bürgertums nach der gescheiterten Revolution 1848 und die antidemokratische Orientierung der Eliten in Adel, Militär und Justiz kommen nicht vor. Auch dass der massenhafte Ungehorsam an der Front und an der Heimatfront den Ersten Weltkrieg beendete, erwähnt er nicht.
Es bleibt die unbequeme und erklärungsbedürftige Tatsache, dass von keiner anderen Nation zwei Weltkriege und ein Völkermord vergleichbaren Ausmaßes ausgingen. So unterschiedliche Autoren wie Elias Canetti, Fritz Fischer, Sebastian Haffner und Georg Lukács haben nach Erklärungen dafür gesucht. Im Gegensatz zu Wagners Ideengeschichte betrachteten sie gesellschaftliche Positionen, befassten sich mit der Vorstellungswelt verschiedener sozialer Gruppen und ihrem Verhältnis zueinander. Ohne eine solche gesellschaftsanalytische Perspektive kann bei der Untersuchung der German Weirdness kaum mehr herauskommen als Küchenpsychologie und Banalitäten über einen angeblichen Nationalcharakter, dessen Fortleben rätselhaft bleibt.
Martin Wagners Untersuchung läuft schließlich auf eine vorsichtige Rehabilitierung des Gehorsams hinaus. Er begrüßt die angeblich »neue, wertoffenere Betrachtung« des Konzepts und fordert eine Debatte darüber »wie, wo und in welchem Maß wir gehorchen wollen oder gehorchen müssen«. Das verwundert nicht, seine Doktorarbeit wurde von dem konservativen Historiker Jörg Baberowski betreut, er selbst war Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Mit antideutschen Analysen teilt der Autor das schlichte Narrativ, demzufolge im historischen Verlauf personale durch strukturelle Herrschaft ersetzt werde, was wiederum faschistische und antidemokratische Revolten auslösen soll. Aber das ist falsch, jedenfalls zum Teil. Der stumme Zwang der Verhältnisse ist nur ein Aspekt der kapitalistischen Entwicklung. Besonders im Alltag von Lohnabhängigen und ihren Angehörigen bleibt die personale Herrschaft präsent. Es öffnen sich neue Räume für Willkür und Privilegien, auch wenn letztere selten definiert und niedergeschrieben werden.
Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verflüchtigte sich der Ausdruck »Gehorsam« allmählich, nicht aber die soziale Praxis. »Vom Straßenverkehr über die Schule bis zum Steuerwesen und der Realität des Arbeitsplatzes werden wir regelmäßig mit Situationen konfrontiert, in denen uns Gehorsam abverlangt wird – wobei die Verwendung des Wortes Gehorsam hier doch heute in der Regel seltsam verstörend wirken würde.« Damit legt er den Finger in die Wunde: Die vermeintliche Entscheidungsfreiheit ist für das Selbstbild der Deutschen so wichtig wie nie zuvor in den vergangenen drei Jahrhunderten. Die Zwänge, denen sie sich beugen, werden als Tabu behandelt, bemäntelt, eskamotiert. Gehorsam wird praktiziert, aber nicht mehr so genannt.
Martin Wagner: Die Deutschen und der Gehorsam. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2025, 236 Seiten, 32 Euro
Matthias Becker schrieb in konkret 8/25 über die Zivilisationsgeschichte Ökologie der Freiheit
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