Es geschah im Jahr 1906

Ein Film würdigt die Schwedin Hilma af Klint, von der das erste abstrakte Kunstwerk der Welt stammt. Von Geraldine Spiekermann

Die Kunstgeschichte sei ein Herrenanzug und ihr Stoff männlich, so die Kunstsammlerin Valeria Napoleone zu Beginn des Dokumentarfilms »Jenseits des Sichtbaren. Hilma af Klint«. Denn wie lässt es sich sonst erklären, dass eine Frau am Anfang des 20. Jahrhunderts die abstrakte Malerei mit deutlichem Vorsprung zu Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch, Piet Mondrian und Francis Picabia erfindet, und kaum jemand weiß davon? Mit keinem Wort wird Hilma af Klint (1862–1944) im Katalog der Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art »Inventing Abstraction 1910–1925« Ende des Jahres 2012 erwähnt, geschweige denn eines ihrer Werke ausgestellt. Zudem ignorieren die Kuratoren im Titel die Tatsache, dass die erste Abstraktion bereits aus dem Jahr 1906 stammt. Selbst in af Klints schwedischem Heimatland findet sich kein Hinweis auf die Orte, an denen die an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm ausgebildete Künstlerin lebte oder arbeitete, ein Grabstein mit ihrem Namen existiert nicht.

Tatsächlich zeigten die reinen Kunstausstellungen zu Lebzeiten af Klints ausnahmslos ihre naturalistischen Landschaften und Porträts in der konventionellen Akademietradition. Zudem verfügte sie testamentarisch, nach zwei kaum beachteten Ausstellungen einiger abstrakter Werke in anthroposophischen Kreisen, dass nach ihrem Tod mindestens 20 Jahre vergehen sollten, bevor ihr geometrisch-ornamentales Figurenuniversum mit kosmischen Bezügen ausgestellt werden dürfe. Dass ihre in Resonanz zu aktuellen Wissenschaftstheorien der Zeit und zur Theosophie stehenden Werke Mitte der achtziger Jahre zum ersten Mal international wahrgenommen wurden, ist dem schwedischen Kunsthistoriker und Anthroposophen Åke Fant (1943–1997) zu verdanken, der auch die erste Monografie über af Klint verfasste.

Bald darauf wurden einige Werke in Los Angeles, Chicago und Den Haag in der Ausstellung »The Spiritual in Art« mit Arbeiten von Kandinsky, Malewitsch, Mondrian und Picabia gezeigt. Dem deutschen Kunstpublikum wurde af Klint 1995 in Frankfurt am Main in der Schau »Okkultismus und Avantgarde« präsentiert.

Doch af Klint blieb weitgehend eine Unbekannte, obwohl die Schwedin rund 1.500 Abstraktionen mit leuchtender Farbpalette, teilweise in zusammenhängenden Serien und enorm großen Formaten von über 2 x 3 Metern schuf. Zudem hinterließ sie 125 Notizbücher mit mehr als 25.000 Seiten, die Aufschluss über die von ihr verwendete Farb-symbolik, die Bedeutung der Schriftzeichen und Symbole liefern, die das automatische Schreiben der Surrealisten vorwegnehmen und in denen af Klint ihrem Schaffen eine geistige Dimension verleiht.

Die Kunstgeschichte muss endlich umgeschrieben werden, so das engagierte Plädoyer von Halina Dyrschkas filmischem Porträt der schwedischen Pionierin der Abstraktion. Die Berliner Regisseurin lässt Wissenschafts-theoretiker*innen, Kunsthistoriker*innen, Kurator*innen, Künstler*innen und Schrift-steller*innen sowie Nachfahr*innen zu Wort kommen, die aus unterschiedlichen Perspektiven den künstlerischen Lebensweg af Klints nachzeichnen. Mit einer weiblichen Stimme aus dem Off kommt die Künstlerin selbst auf Schwedisch zu Wort, unter Rückgriff auf Einträge aus den reich illustrierten Notizbüchern. So betont af Klint, um ihrer künstlerischen Bestimmung willen habe sie auf Ehe und Familie verzichtet, in ihr ströme eine derartige Kraft, sie müsse ohne Kompromisse vorwärts. Eine Schauspielerin verdeutlicht in einigen Sequenzen des Films den Malprozess auf den besonders großflächigen Formaten. Da sie stumm und gesichtslos bleibt, gelingt es, sich ganz auf die Farb- und Formsprache zu konzentrieren. In diesen Einstellungen ist auch zu sehen, wie lange vor Jackson Pollock eine Frau einfach ihre Bilder von der Staffelei nahm und sie auf den Boden legte, um während des Malens mit nackten Füßen darüberzulaufen.

Überhaupt ist das Zeigen der Bilder neben den informativen und kritischen Kommentaren die Stärke des Dokumentarfilms. Die Einzelbilder zusammenhängender Serien werden nacheinander eingeblendet, Figurenvariationen und Spiegelungen vom Gegenständlichen ins zunehmend Abstrakte somit verdeutlicht und die leuchtend orangefarbigen, violetten und rosafarbenen Großformate in langsamen Kamerafahrten abgetastet. Eine genaue Interpretation der Werke erfolgt zwar nicht, doch es wird anschaulich, wie die Künstlerin bestrebt ist, die nicht sichtbaren Elemente der Wirklichkeit in unendlichen Variationen darzustellen.

Das Nichtsichtbare war das Thema der Zeit. Ausgehend von den aktuellen Entdeckungen des Atoms und des Elektrons (1897), der Radiowellen (1887) und Röntgenstrahlen (1895), der Quantentheorie (1900) und Relativitätstheorie (1905) steht af Klints Bildkosmos stellvertretend für die Entgrenzung der gesamten fassbaren Wirklichkeit. Das Unsichtbare der Wissenschaft grenzte direkt an das Unfassbare der geistigen Dimension. Af Klint nahm als Medium an spiritistischen Sitzungen teil und griff theosophische und anthroposophische Ideen auf, weshalb mancher Kunstkritiker und Kurator meinte, sie nicht ernst nehmen zu müssen. Dabei waren auch Kandinsky, Malewitsch und Mondrian empfänglich für die spirituellen Strömungen der Zeit, ebenso der kommunistische Künstler Otto Freundlich.

Den abstrakten Bildkompositionen »jenseits des Sichtbaren« stellt Dyrschka Naturaufnahmen der schwedischen Landschaft gegenüber. Das verdeutlicht einerseits af Klints Versuch, das Universum zu erforschen und visuell zu erklären. Andererseits erscheint es in der Konfrontation mit der Abstraktion umso erstaunlicher, wie sie zu ihren ungewöhnlichen Bild- und Farbfindungen gekommen ist. Die zusätzlich gewährten Einblicke in Archive und Ausstellungen, so etwa in die große Retrospektive »Pionierin der Abstraktion« im Jahr 2013 im Moderna Museet in Stockholm, werden institutionskritisch kommentiert. Iris Müller-Westermann, die Kuratorin der Wanderausstellung, die anschließend in Berlin und Málaga, Louisiana und Dänemark zu sehen war und die in drei Jahren über eine Million Zuschauer*innen erreichte, kommt hier ebenso zu Wort wie die Kunsthistorikerin Julia Voss, die jahrelang ausführlich zum Leben und Werk af Klints recherchiert und nun die erste Biografie über die Künstlerin verfasst hat. O-Töne sind mit musikalischen Arrangements des Berliner Komponisten Damian Scholl (*1988) sensibel abgestimmt, lediglich in der Schlusssequenz hätte gut darauf verzichtet werden können, wenn af Klint aus dem Off in ihrem letzten Satz von der »Stille im Denken und der Stille im Empfinden« spricht.

Das Gesamtwerk af Klints befindet sich heute in der Stiftelsen Hilma af Klints Verk in Stockholm. Dass das Werk als Konvolut vollständig erhalten blieb, ist der Künstlerin selbst zu verdanken, die in ihrem Testament verfügte, dass die abstrakten Serien nie verkauft werden dürfen. So blieb ihr riesiges Œuvre wie in einer Zeitkapsel erhalten, wie Voss erläutert, und konnte plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen.

Af Klint beschrieb den »idealen Tempel« für ihre Abstraktionen übrigens detailliert in ihren Aufzeichnungen: als einen weißen Alabasterbau mit einer Spirale im Zentrum. 2018 zeigte endlich der strahlende spiralförmige Kunsttempel des Guggenheim-Museums in New York City mit »Hilma af Klint. Paintings for the Future« eine One-Woman-Show, die mit 600.000 Besucher*innen die bis dato erfolgreichste ihrer Art war. Bleibt zu hoffen, dass mit dieser Würdigung innerhalb der politisch korrekten All-Women-Shows nicht nur einem aktuellen Trend gefolgt wird, sondern dass, wie Valeria Napoleone fordert, den Frauen endlich der Platz in der Kunstgeschichtsschreibung zugestanden wird, der ihnen gebührt. Es bleibt also abzuwarten, ob es dem Film und Buch gelingt, die Werke Hilma af Klints in den sichtbaren Kosmos der Kunst dauerhaft
einzuschreiben.

»Jenseits des Sichtbaren. Hilma af Klint«. Dokumentarfilm von Halina Dyrschka, 93 Minuten; ab 5. März im Kino

Julia Voss: Hilma af Klint. »Die Menschheit in Erstaunen versetzen«. Biografie. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2020, 600 Seiten, 25 Euro

In Geraldine Spiekermanns Küche hängt das Plakat »Free the Women Artists of Europe!« der Aktivistinnengruppe Guerrilla Girls, das Künstlerinnen hinter Gittern zeigt (inklusive der persönlichen Widmung »Come ape with us«)