Mit Ansage

Hat der Staudammbruch von Brumadinho juristische Konsequenzen? Von Oliver Tolmein

Als im Januar 2019 im brasilianischen Brumadinho der Staudamm einer großen Eisenerzmine brach, starben mehr als 270 Menschen. 13 Millionen Kubikmeter Schlamm mit teilweise giftigen Bergbauabwässern rissen damals Menschen, Tiere und Gebäude mit sich. Es war eine der größten Industriekatastrophen in der Geschichte Brasiliens. Jetzt, ein gutes Jahr danach, hat ein brasilianisches Gericht die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen 16 Verantwortliche des Betreiberkonzerns Vale und Mitarbeiter des TÜV Süd zugelassen.

Vorgeworfen wird den Angeklagten nicht fahrlässige Tötung, wie sonst oft bei Unglücken infolge unzureichender Sicherheitsmaßnahmen, sondern vorsätzlicher Totschlag. Die angeklagten führenden Mitarbeiter des Konzerns Vale, darunter dessen im März 2019 entlassener CEO Fabio Schvartsman, und die Experten des TÜV Süd hätten bewusst zusammengearbeitet mit dem Ziel, »den inakzeptablen Sicherheitszustand mehrerer Staudämme zu verheimlichen«, heißt es in einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft zur Anklageschrift. Außerdem sei Druck auf Prüfunternehmen ausgeübt worden, wenn sie Sicherheitsmängel festgestellt hatten. Spätestens seit November 2017 hätten die Manager gewusst, dass der Damm von Brumadinho höchst gefährdet ist. Er wurde unternehmensintern auf einer Liste von zehn Dämmen geführt, deren Bruch befürchtet werden musste. Die Mitarbeiter des TÜV Süd sorgten mit immer neuen Berechnungsmethoden dafür, dass die bedenklichen Prüfergebnisse harmloser erschienen und allen Gefahren zum Trotz weitergearbeitet werden konnte. Der TÜV SÜD hatte gute Gründe für diese Vorgehensweise: Der BBC zufolge hatte er Verträge im Wert von etwa vier Millionen Euro mit Vale abgeschlossen.

Parallel zu dem Strafverfahren in Brasilien laufen auch in Deutschland Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, da fünf Angehörige von Menschen, die infolge des Dammbruchs ums Leben gekommen sind, unterstützt von Misereor und dem in Berlin ansässigen European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) Strafanzeige und Nebenklageanträge gestellt haben. Auch in diesen Verfahren geht es um den Vorwurf, dass Mitarbeiter/innen des TÜV Süd wider besseres Wissen die Stabilität des Dammes bestätigt haben sollen und so weder rechtzeitige Stabilisierungs- noch Evakuierungsmaßnahmen ergriffen worden seien.

Ob die Strafverfahren zu Verurteilungen und also zu den erwarteten hohen Strafen führen werden, ist schwer zu prognostizieren: Einiges spricht dafür, dass den brasilianischen Ermittlerinnen und Ermittlern Beweisstücke vorliegen, die deutlich machen, dass im brasilianischen Konzern bekannt war, dass es um die Sicherheit des Dammes nicht gut bestellt war – das könnte reichen, die Vorwürfe der Anklage nachzuweisen, dass hier vorsätzlich, also unter Inkaufnahme von Toten, gehandelt worden ist. Dass den einzelnen Angeklagten die Kenntnis dieser Unterlagen nachgewiesen werden kann, steht damit aber noch nicht fest.

Immerhin ist es in Brasilien, anders als in Deutschland, gelungen, in dem Verfahren zügig zu ermitteln und eine Anklage zu erheben, die auch vom Gericht zugelassen wurde: Der Eindruck der katastrophalen Ereignisse, die zu erheblichen Verseuchungen der Umwelt und zu fast 300 Toten geführt haben, wirkt in der Region noch viel schwerer als hier. Zudem hat ein Zivilgericht im Bundesstaat Minas Gerais den brasilianischen Bergbaukonzern Vale, der einer der größten Eisenexporteure der Welt ist, dem Grunde nach dazu verurteilt, die Umwelt- und auch alle anderen Schäden auszugleichen, die durch den Bruch des Dammes entstanden seien. Das Gericht hat veranlasst, dass dafür vorerst 2,6 Milliarden Euro Unternehmensgelder eingefroren wurden. Auf einer Internetseite rühmt sich Vale nun seiner Schadensersatzleistungen: 107.000 Menschen hätten eine Notfallentschädigung erhalten, über 1.830 zivilrechtliche Vereinbarungen seien getroffen worden, außerdem hätten Angehörige von 242 der bis dahin anerkannten 250 Todesopfer Schadensersatzzahlungen erhalten.

Der Dammbruch von Brumadinho ist die größte Umweltkatastrophe, die mit Vale in Verbindung gebracht wird, aber es ist nicht die einzige: 2015 starben 19 Menschen beim Bruch des Dammes von Bento Rodrigues, für den ein Joint-Venture-Unternehmen von Vale und dem multinationalen Konzern BHP verantwortlich war. Damals flossen sogar
32 Millionen Kubikmeter schwermetallverseuchten Schlamms in den Rio Doce. Die Schätzungen des Schadens reichen von fünf bis zu fünfzig Milliarden US-Dollar. Drei Jahre zuvor, 2012, wurde Vale bereits im Rahmen des Public Eye Awards als der schlimmste Konzern der Welt attackiert. Der »Vale 2012 Unsustainability Report« lieferte die Fakten, zu denen auch Zwangsumsiedlungen indigener Bevölkerungen in Neukaledonien und eine scharfe anti-gewerkschaftliche Politik gehörten.

Damit sind auch die Grenzen eines rechtlichen Vorgehens gegen den Konzern (knapp 70.000 Mitarbeiter) aufgezeigt, der im Februar mit einem Börsenwert von knapp 61 Milliarden Dollar notiert wurde. Das Kalkül, das beispielsweise auch das internationale Völkerstrafrecht prägt, geht von einem Abschreckungseffekt aus, den es hat, wenn Diktatoren und Kriegsverbrecher erkennen, dass auch sie unter Umständen vor Gericht und im Knast landen. Und tatsächlich ist es erfreulich zu sehen, dass sich heute weder Staatschefs noch führende Manager internationaler Großkonzerne darauf verlassen können, unangreifbar zu sein. Gleichwohl zeigen gerade diese Verfahren, wie langwierig und heikel der Weg von der Anklage zum Urteil ist. Der Dammbruch von Bento Rodrigues etwa hat, bei einer vergleichbaren rechtlichen Ausgangslage, bis heute zu keiner Verurteilung oder Inhaftierung geführt. Die Ressourcen der Ermittler und der Gerichte sind vergleichsweise knapp und reichen nicht für mehr als die Statuierung eines Exempels. Die effektive Strafverfolgung bleibt die Ausnahme von der Regel, auf die sich viele Verantwortliche weiterhin verlassen.

Dennoch: Strafrechtliche Verfahren und zivilrechtliche Entschädigungsprozesse erweisen sich als wichtige Anknüpfungspunkte für weiterführende gesellschaftliche Auseinandersetzungen über die umweltzerstörende und auf Profitmaximierung fokussierende Politik internationaler Konzerne. In Deutschland existiert beispielsweise ein breites Bündnis so unterschiedlicher Organisationen wie Greenpeace, DGB, Brot für die Welt und Germanwatch, das sich in Zusammenhang mit Umweltkatastrophen wie der in Brumadinho für ein strukturell wirkendes Lieferkettengesetz starkmacht, das Unternehmen nicht nur für Schäden haftbar macht, die sie selbst verursachen, sondern auch für Schäden, die entlang der Lieferkette, etwa durch Tochterfirmen, wichtige Geschäftspartner oder Lieferanten entstehen. Das Wirkungsprinzip eines solchen Regelungswerks zeigt die Chancen und Grenzen der Auseinandersetzung mit rechtlichen Mitteln: Es sind viele unterschiedliche Ansätze nötig, um die Verhältnisse in Bewegung zu bringen.

Oliver Tolmein ist Rechtsanwalt und erlebt auch in seinem Spezialgebiet, dem Behindertenrecht, wie Recht Politik beeinflussen kann, sich ohne gesellschaftlichen Druck aber nicht bewegt