Double Bind des Betriebs

Der Dichter Paul Celan nahm sich vor 50 Jahren das Leben. Von Stefan Ripplinger

Wie Alfred Andersch glaubten nicht wenige von Paul Celans Zeitgenossen, der Dichter leide an einem »Verfolgungswahn« und sehe deshalb überall Nazis. In Wahrheit verhielt es sich gerade umgekehrt. Er sah überall Nazis und verfiel darüber in einen Verfolgungswahn. Die Frage, warum der Dichter den Nazis auch in Paris, wo er lebte, nicht entrinnen konnte, lässt sich anhand seiner Briefe beantworten, von denen gerade eine breite Auswahl erschienen ist.

In Frankreich ist der Antisemitismus nicht erst seit der Dreyfus-Affäre, sondern wenigstens seit Voltaire heimisch. Wir wissen nicht, ob der Schalterbeamte der Post, dem bekannt war, dass Celan gelegentlich nach Israel schreibt, ihn wirklich abfällig gemustert hat. Im März 1970, einen Monat vor seinem Suizid, berichtet Celan einer Jugendfreundin, der Schriftstellerin Ilana Shmueli, der Beamte habe »einen Blick« auf ihn gerichtet, »wie ich ihn aus meiner Jugend in Cz(ernowitz) kenne: er musterte mich, suchte mein Gesicht ab nach jüdischen Zügen, fand sie, und ›hasste mich an‹, nur mit den Augen, unmissverständlich«. Ausgeschlossen ist das nicht, wenn sich ein gereizter Mann in solchen Dingen auch gelegentlich irren mag. Aber viel mehr als von derartigen Zufallsbegegnungen in Paris fühlte sich Celan ohnehin von deutschen Schöngeistern gequält.

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit hatten in Justiz, Politik, Verwaltung und Wirtschaft vielfach alte Nazis das Sagen. Das erklärt sich aus fortdauernden Machtverhältnissen, die nicht selten den Interessen der Westalliierten konvenierten; das Geschäft musste wieder anlaufen. Nicht so leicht zu erklären ist, weshalb selbst im Kulturbetrieb, der doch für die ideologische Reproduktion zu sorgen hat und inzwischen auf »demokratisch« und »weltoffen« geschaltet war, alte und neue Nazis, auch Antisemiten, in beachtlicher Zahl auftraten. Hier zeugte sich Altes fort, griff aber auch eine neue Selbstgefälligkeit um sich, ein dumpfes, bis heute verbreitetes Empfinden, auf der richtigen Seite zu stehen. Und es zeigte sich, dass Celan mit dem Alten weniger Schwierigkeiten hatte als mit dem Neuen. Er nahm keinen Anstand, Ernst Jünger um Unterstützung zu bitten, und erhielt Auskunft von dessen Privatsekretär Armin Mohler, einem alten Rechten, der zu einem der Dunkelmänner der Neuen Rechten werden sollte. Wohlbekannt ist Celans spannungsvolles Verhältnis zu Martin Heidegger, mit dem er gleichwohl bis ans Ende seines Lebens Umgang hatte. Er selbst hat die Problematik dieses Verhältnisses 1959 der Dichterin Ingeborg Bachmann so skizziert:

Ich bin, Du weissts, sicherlich, der letzte, der über die Freiburger Rektoratsrede (Heideggers) und einiges andere hinwegsehen kann; aber ich sage mir auch, zumal jetzt, da ich meine höchst konkreten Erfahrungen mit so patentierten Antinazis wie Böll und Andersch gemacht habe, dass derjenige, der an seinen Verfehlungen würgt, der nicht so tut, als habe er nie gefehlt, der den Makel, der an ihm haftet, nicht kaschiert, besser ist als derjenige, der sich in seiner seinerzeitigen Unbescholtenheit (war es, so muss ich, und ich habe Grund dazu, fragen, wirklich und in
allen Teilen Unbescholtenheit?) auf das bequemste und einträglichste eingerichtet hat, so bequem, dass er sich jetzt und hier – freilich nur »privat« und nicht in der Öffentlichkeit, denn das schadet ja bekanntlich dem Prestige – die eklatantesten Gemeinheiten leisten kann.

Dass Heidegger an seinen »Verfehlungen gewürgt« hat, lässt sich bezweifeln. Aber begreiflich ist schon, dass Celan in diesem Zusammenhang Andersch nennt, von dessen Unbescholtenheit seit einiger Zeit ohnehin keine Rede mehr sein kann. Andersch hatte im Vorjahr Celan in einem Gespräch mehrfach »Verfolgungswahn« unterstellt, und als der sich das nicht länger anhören wollte und ging, ein »Hauen Sie ab!« hinterhergebrüllt. Wie kam Celan jedoch auf Heinrich Böll? War und blieb der nicht unbescholten?

Hier gilt die Faustregel, dass wer sich in den Betrieb begibt, darin verkommt. Böll widmete sein Irisches Tagebuch (1957) dem Feuilletonchef der »FAZ«, Karl Korn. Korn, der 1940 das Feuilleton der Wochenzeitung »Das Reich« geleitet hatte, förderte nach dem Krieg Andersch, Böll und Wolfgang Koeppen, druckte aber auch eine Würdigung eines von Hitlers »Gottbegnadeten«, des Schriftstellers Erwin Guido Kolbenheyer, der noch bei einer Ehrung zu seinem 75. Geburtstag, Dezember 1953 in München, »seinen Anhängern dreimal mit dem zum Hitlergruß erhobenen rechten Arm« (»Die Zeit«, 28.1.1954) gedankt hat. Celan kündigte Böll die Freundschaft – um sie zwei Jahre später zu erneuern. Das Schema von Bruch und Versöhnung wiederholte sich mit anderen und bezeichnet die ganze Tragödie des Mannes. Denn eines ist es zu erkennen, dass man sich mit den Anstiftern und Heuchlern in einer Mördergrube befindet, etwas ganz anderes aber, aus ihr nicht mehr herauszufinden.

Die vieldiskutierte Episode, dass der Impresario Hans Werner Richter den Dichter bei einer Sitzung der Gruppe 47 mit der Bemerkung vorführte, er lese in der Tonlage von Joseph Goebbels, ist weit weniger interessant als die von Briefen beglaubigte, dass sich der so Geschmähte immer wieder um den einflussreichen Mann bemüht hat. Richter hat dennoch nie begriffen, wen er da vor sich hatte. Vor der Bundestagswahl 1965 wollte er den Dichter für eine Unterstützung der SPD gewinnen. Willy wählen! Celan lehnte mit der Bemerkung ab, ein Schriftsteller habe sich nicht für das »kleinere Übel«, sondern für das Wahre und Menschliche zu entscheiden. Es scheint, dass ihm überall da, wo sich fortschrittliche Deutsche versammelten, unbehaglich wurde, als könnte aus einer Parteiversammlung im Nu ein Pogrom werden. 1958 schreibt er auf eine Frage von Harald Hartung:

Ob der Geist links steht? Ich wollte, er stünde (noch) dort! Aber was ist Geist? Und wo ist, nach allem Geschehenen, links? Ich glaube, der Geist steht – sofern er überhaupt noch seine »Vertikalität« zu behaupten vermag – bei sich selbst. Es wäre schön, wenn die Linke zu ihm stiesse. (Von der Rechten kann man das ja nun wirklich nicht erwarten ...)

Aufrecht hält sich der Geist, wenn er sich mit anderen bewegt. Doch alle Erinnerung an Solidarität und Widerstand, einmal gar an den Wiener Arbeiteraufstand vom Februar 1934 und an den Spanischen Bürgerkrieg – »Ruf’s, das Schibboleth, hinaus / in die Fremde der Heimat: / Februar. No pasarán« –, verblasste bald vor den immer häufigeren Begegnungen mit dem »jüngsten Hitler-Nachwuchs« bei Lesungen, mit »literarischem Gangstertum« in Zeitungen und Verbänden, mit »MdB bis FAZ-Piefkes«, mit »Linksnationalismus« und »Linksantisemitismus«.

Es war jedoch nicht so, als hätte Celan bloß Häme und Ablehnung geerntet. An Angeboten, Aufmerksamkeit und Auszeichnungen hat es allenthalben nicht gefehlt, doch zeichnete man nicht den Dichter, sondern den Ehrenjuden aus. Je mehr Ruhm auf ihn gehäuft wurde, umso mehr erschien er als Fremder und Stellvertreter. Das Verhältnis des Betriebs zu Celan war das eines Double Bind, er liebte und hasste diesen Mann im selben Augenblick. Wie der Kybernetiker Gregory Bateson erläuterte, entfaltet der Double Bind seine pathogene Wirkung nur, wenn der Gehassliebte von denjenigen, die ihn so hasslieben, abhängig ist. Worin bestand aber Celans Abhängigkeit vom Betrieb? Darüber bieten die Briefe wenig Aufschluss.

Ernährt hat er sich und seine kleine Familie, wenn auch mühsam, mit Übersetzungen aus vielen Sprachen und mit Übersetzungskursen. Er war also nicht ökonomisch abhängig von Zuwendungen und ist ihnen mitunter sogar ausgewichen; »tun Sie Ihr Möglichstes«, schreibt er 1964 an den Philosophen Peter Szondi, »damit ich das Ford-Stipendium nicht bekomme«. Getrost ausgeschlossen werden kann außerdem, dass ihn Gefallssucht trieb, denn davon, mit dubiosen Gestalten auf einem Podium zu sitzen, in den deutschen Feuilletons des Ästhetizismus oder gar des Plagiats geziehen oder bei Lesungen von Störern und Fragern belästigt zu werden, klagt er eindringlich. Er litt unsäglich.

Für seinen unbedingten Willen, seine Gedichte in so reiner Form wie möglich zu übermitteln, gibt es tatsächlich nur eine einleuchtende Erklärung: Er sah sich den Ermordeten verpflichtet, allen voran seinen von der SS erschossenen Eltern. Um ihretwillen durfte er keine Kompromisse eingehen, um ihretwillen musste er Zeugnis ablegen. An den Schriftsteller Paul Schallück schreibt er 1956:

Der Jude P.C. ist als Jude ein (mehr oder minder zufällig) Überlebender. Er darf, wenn er richtig verzeihen soll, nicht vergessen, im Namen wessen er, der als Jude Angesprochene, mitverzeiht. Ein billiges Verzeihen ist dem billig um Verzeihung Bittenden gegenüber kein Verzeihen mehr; den anderen, also jenen gegenüber, die nicht mehr verzeihen können, und auch jenen, den Juden und Nichtjuden, die um all das wissen, gegenüber, ist es Verrat.

Und so kam es, dass er, um die Ermordeten nicht zu verraten, mit den Mördern oder ihren Mitarbeitern in eine von Anfang an schwierige Verbindung trat, die ihn am Ende selbst und, wie es heißt, auch noch am 20. April das Leben gekostet hat.

 

Paul Celan: »etwas ganz und gar Persönliches«. Briefe 1934–1970. Herausgegeben von Barbara Wiedemann. Suhrkamp, Berlin 2019, 1.286 Seiten, 78 Euro

Stefan Ripplinger schrieb in konkret 3/20 über den Widerstand gegen die Reformen Emmanuel Macrons