Presswehen

Wie systemrelevant ist der deutsche Journalist? Von Dirk Braunstein

Ein Blogger für »FAZ.net«, also für Deutschland, bloggt über das Für und Wider die Notfallbetreuung von »Klein- und Kleinstkindern«, deren Eltern in sog. »systemrelevanten Berufen« arbeiten: »Meine Frau und ich gehören dazu. Sie, die als Therapeutin traumatisierte und schwertraumatisierte Kinder und Jugendliche betreut, und ich als Journalist, der seine Aufgaben nicht mal eben so nebenbei oder abends erledigen kann und dabei hilft, das Informationsbedürfnis der Bevölkerung zufriedenzustellen.« So obszön diese Selbstbeschreibung auch ist, so ist sie, in einer Zeit, in der »systemkritisch« das Gegenteil von dem meint, was es bedeutet, doch nur allzu zutreffend. Würde dem Informationsbedürfniszufriedensteller in einem Moment der Hellsicht, der aber auch nicht kommen wird, einsichtig, welches System und wessen Relevanz er in wenngleich nebenbei erledigtem Deutsch anspricht, er müsste erschrecken angesichts eines Vergleichs, der nur um den Preis der Wahrheit eine Traumatherapeutin und einen Journalisten unter ein und dieselbe Systemrelevanz ordnen kann.

Der Moment verstreicht ungenutzt, es muss ja weitergehen, und es geht ja nun auch weiter: »Die Verhaltensregeln, die in Zeiten der Corona-Pandemie befolgt werden sollen, sind mit Klein- und Kleinstkindern faktisch nicht einzuhalten. Wenn ein Kind immer auf den Schoß und an die Hand möchte, wird es sich kaum auf Abstand halten lassen, und das wäre im Binnenverhältnis Erzieher-Kind wohl auch kaum angebracht.« Weshalb Martin Benninghoff diese schlichte Erkenntnis nicht wie jedes Klein- und Kleinstkind auch ohne »Menschen wie Babysitter oder Nachbarn, die sich in ähnlicher Weise exponieren würden«, haben kann? Weil ihm sein systemkritisches Dasein vor lauter Tätigkeit dafür nun wirklich keine Zeit lässt: »Will man den Betrieb am Laufen halten und nicht ganz Deutschland komplett stilllegen, müssen die systemrelevanten Berufsgruppen ihrer Tätigkeit nachgehen können.« Nämlich die einen, Traumatisierten zu helfen, die anderen halt niemandem, wohl aber dem Betrieb und ganz Deutschland. Womit zumindest die Binnenverhältnisse des relevanten Systems geklärt wären: Wo die treibenden Bedürfnisse des Ganzgroßenganzen befriedigt sind, kann das Volk, das mitzieht, zufrieden sein. Für die am Wegesrand Liegengebliebenen gibt es obendrein eine Betreuung, die wir immerhin mal eben so ernst nehmen wie unsere journalistische Tätigkeit.

Dirk Braunstein