Einer von uns

Dr. Markus Söder, ein Hanswurst auf dem Gipfel seiner Popularität. Von Florian Sendtner

Montag, 27. Juli 2020, 10 Uhr: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gibt eine Pressekonferenz, die vom Bayrischen Rundfunk live übertragen wird. Anlass: Unter den 479 osteuropäischen Saisonarbeitern auf einem Gemüsehof in Mamming im niederbayerischen Landkreis Dingolfing/Landau an der Isar sind 176 Personen positiv auf Covid-19 getestet worden. 176 Neuinfizierte in einem Landkreis mit 95.000 Einwohnern, das sind ein bisschen mehr als die 50 auf 100.000, die als Hotspot gelten, der normalerweise einen lokalen Lockdown nach sich zieht. Söder muss vor die Presse. Er spricht. 20 Minuten lang. Und sagt: nichts. Zumindest nichts zum Thema.

Es hört sich an, als spräche der Bundeskanzler allgemein über Deutschland in der Krise, er teilt seine Besorgnis mit, er erläutert seine umsichtigen Maßnahmen. Mamming? Die 176 infizierten Erntehelfer aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien und der Ukraine? Gerade mal drei Sätze: kein Grund zur Sorge, der Schutz der Bevölkerung »vor Ort« (das Blähwort darf nicht fehlen) ist gewährleistet, man hat einen Sicherheitszaun um den Gemüsebetrieb und die Infizierten gezogen und Security davor aufgestellt. Über die Infizierten, ihren Zustand, die Containerbaracken, in denen sie jetzt in Quarantäne gefangen sind – kein Wort, nicht mal eine Andeutung.

Natürlich auch kein Wort davon, dass zum Beispiel Schleswig-Holstein den Landkreis Dingolfing-Landau als Risikogebiet einstuft. Ein Risikogebiet, mitten in Bayern? Wär’ ja noch schöner! Der Hotspot ist eigentlich gar keiner! Er ist lokalisiert und unter Quarantäne gestellt, die Infizierten sind keine Bayern, also, wo ist das Problem? Da ist es dann auch egal, dass das Virus unter den Saisonarbeitern in der Enge der Containerbaracken in den folgenden Tagen um sich greift: 230 Infizierte (also fast die Hälfte der Belegschaft) bei dem Gemüsebetrieb, und dann auch noch über 160 Infizierte (ebenfalls osteuropäische Saisonarbeiter) bei einem Konservenhersteller, ebenfalls in Mamming, der von dem Gemüsebetrieb beliefert wird. Am 5. August erinnert die Covid-19-Deutschlandkarte an die Karte nach einer Wahl: Der Landkreis Dingolfing-Landau sticht als schwarzes Loch aus der Republik heraus. Das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit meldet für den Landkreis eine Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner von 231.

Söder ficht das nicht an. Er ist ganz der Landesvater. Landesfremde Elemente sind nicht sein Zuständigkeitsbereich. Wie heißt der Produzentenring, dem der Mamminger Gemüsebetrieb angehört? »Bayernliebe«. Und nicht »Bulgaren-« oder »Rumänenliebe«. Und dann kam auch noch die »Corona-Testpanne«. 900 nachweislich infizierte Reiserückkehrer erhielten tagelang keinen Bescheid über ihren Befund. Ausgerechnet in dem Bundesland, wo sie mit Laptop und Lederhose rumlaufen und Söder im vergangenen Jahr seine »Hightech-Agenda Bayern« präsentierte, gab es Probleme bei der händischen Datenübermittlung.

Bereits Anfang Juli hatte Söder dem »Tagesspiegel« mitgeteilt, der Kanzlerkandidat der Union müsse sich zuvor in der Covid-19-Krise bewährt haben: »Nur wer Krisen meistert, wer die Pflicht kann, der kann auch bei der Kür glänzen.« Wer sich über die schnöden Fakten beugt, sieht Tag für Tag, dass Bayern im Ranking der Bundesländer die Infizierten- und die Totenzahlen anführt. Die indigene Bevölkerung erblickt in Söder nichtsdestotrotz den erfolgreichen Krisenmanager. Seit Monaten schwebt der windige Selbstdarsteller »im Umfrage-Himmel« (»Bild«), in einer Infratest-Dimap-Erhebung vom 22. Juli sind 87 Prozent der Bayern sehr zufrieden oder zufrieden mit dem Staats- und Parteichef, für 77 Prozent wäre er ein guter Kanzlerkandidat, und sogar außerhalb Bayerns erreicht er Werte, von denen Strauß und Stoiber nur träumen konnten.

Selbst Armin Laschet, offizieller Kandidat für den CDU-Vorsitz, steht pandemiemäßig bei weitem nicht so schlecht da wie Söder. Nordrhein-Westfalen verzeichnet, obwohl es fünf Millionen Einwohner mehr hat als Bayern, weniger Infizierte und viel weniger Tote. Doch Laschet ließ sich PR-mäßig von seinem Tandempartner Jens Spahn ausmüllern, und so was wie Logik hat sich im Zusammenhang der Pandemie sowieso komplett verflüchtigt. Ginge es irgendwie rational zu, müsste die Republik Manuela Schwesig (SPD) feiern: Das von ihr regierte Mecklenburg-Vorpommern hat mit großem Abstand die wenigsten Covid-19-Toten.

Schwesig macht gegenüber Söder aber auch alles falsch. Vor allem hält sie zwischendurch mal die Klappe, während Söder rund um die Uhr gleichzeitig in drei Mikrofone zu sprechen scheint. In staatsmännisch-besorgt-beruhigendem Tonfall wanzt er sich an, redet alle an die Wand, hat einfach den längeren Atem. Und dass er sich sichtlich schwertut mit seiner Muttersprache, ist ein zusätzlicher Vorteil, denn daran erkennt die überwältigende Mehrheit der Zuhörer: Einer von uns!

Es scheint kein Weg daran vorbeizuführen, dass der derzeit erfolgreichste Blender und Dummschwätzer auf der deutschen Politbühne demnächst per achtzigmillionenfacher Akklamation zum Bundeskanzler auf Lebenszeit ernannt wird. Der Mann kann sich all der Sympathiebekundungen kaum erwehren. Seit Monaten beteuert er: »Mein Platz ist in Bayern!« Anfang August sah er sich gezwungen, im »ARD-Sommerinterview« zu erläutern: »Wenn ich sag’: ›Mein Platz ist in Bayern‹, dann ist das net nur irgendwo so ein Satz, den man dahersagt, sondern des hat schon eine, eine echte Schwere dahinter.« Diese »echte Schwere dahinter«, analysierte der langjährige BR-Söderologe Nikolaus Neumaier tags darauf, hat indes nicht mehr so ganz die Wucht der ursprünglichen Söder-Sentenz »Mein Platz ist in Bayern«: »Ich finde, da nimmt die Wucht dieser Aussage etwas ab, und es bleibt so hängen, dass er die Kanzlerkandidatur nicht ausschließt.«

Auch die Wirecard-Affäre wird diesen Kandidaten nicht mehr aufhalten. Bilanzfälschung? Geldwäsche? Bei einer bayerischen Finanzaktiengesellschaft, die akkurat in jenen Jahren ihren rasanten Aufstieg nahm, als der bayerische Finanzminister Söder hieß? Der designierte Kanzler kühl: »Es gab da keinen Kontakt zu der Firma.« Man wird die mysteriösen Todesfälle unter Wirecard-Chefprokuristen genau beobachten müssen.

Und doch bleibt alles offen: Wird mit Söder als Bundeskanzler an jeder deutschen Straßenkreuzung ein Kruzifix aufgestellt? Lässt der erste CSU-Kanzler an der bayerisch-österreichischen Grenze eine Mauer bauen (von Grenz- und Schutzzäunen hat er im Herbst 2015 schon gesprochen)? Oder verstärkt sich Söders gegenwärtiger liberaler Schub ins Unermessliche? Ist die weibliche Parität in seinem Münchner Kabinett nur ein Vorbote? Wird ein Bundeskanzler Söder das Matriarchat ausrufen? Bayern neigt bekanntlich zur Anarchie, vorausgesetzt, ein starker Anarch steht an der Spitze. So erklärt sich auch Söders »Frauenförderung«: totale Frauenpower! Unter einem starken Patriarchen, versteht sich: Dr. Markus Söder.

Florian Sendtner schrieb in konkret 8/20 über den Umgang der Polizei mit den Morddrohungen des »NSU 2.0«