Datensauger der Zukunft

Der Erfolg der Online-Plattform Tiktok zeigt, dass sich pessimistische Prophezeiungen der Social-Media-Kritiker schneller erfüllen könnten als erwartet. Von Peter Kusenberg

Im Juli, so berichtete das deutsche Portal Netzpolitik.org in Übereinstimmung mit internationalen Medien, verurteilte ein Gericht in Kairo die Influencerin Manar Sama zu drei Jahren Haft. Verurteilt wurde die junge Frau für den Verstoß gegen die »öffentliche Moral«, da sie sich der Nachrichtenagentur AFP zufolge der »Anstiftung zu Ausschweifung und Unmoral« schuldig gemacht habe, als sie sich tanzend mit offenem Haar und in luftiger Kleidung in einem Onlinevideo präsentierte. Wegen ähnlicher Vorwürfe wurden fünf weitere junge Ägypterinnen im gleichen Zeitraum zu mehrjährigen Haftstrafen und zu Geldbußen verurteilt. Das englischsprachige ägyptische Magazin »Egypt Today« verwies darauf, mindestens eine der angeklagten Frauen habe »junge Mädchen dazu ermuntert, online unangemessene Handlungen zu begehen«.

Ob hier westliche Medien bewusst den Anschein erwecken, die »Influencerinnen« seien nur wegen ihrer legeren Erscheinungsweise angeklagt worden, mag ich nicht klären. Dass strukturelle Frauenfeindlichkeit einen Anteil am Gerichtsurteil hat, ist wahrscheinlich. Für diesen Beitrag ist entscheidend, dass die Pressemedien übereinstimmend das Social-Media-Videoportal Tiktok als Ort des »Verbrechens« benennen. Die Videos, die Sama, die Bloggerinnen Haneen Hossam und Mawada Al-Adham zeigen, liefen mit großem Erfolg auf Tiktok – und nicht auf Youtube, Facebook oder dem gleichfalls in der Volksrepublik China beheimateten Qzone. Auch die Online-Petition, die sich für die Unterstützung der in Ägypten inhaftierten Frauen einsetzt, findet sich auf Tiktok.

Das Portal, das in der Volksrepublik als Douyin (Douyīn duanshìpín) bekannt ist, existiert seit 2016, seit 2018 unter dem Namen Tiktok. Es handelt sich um eine Mischform aus Social-Media-Dienst und Online-Musikportal. Genutzt wird es angeblich von rund 800 Millionen Menschen (fünf Millionen in Deutschland), wie eine Studie des Marktforschungsinstituts Data-Reportal behauptet.

Tiktok unterscheidet sich deutlich von den Mitbewerbern. Während Mark Zuckerbergs Facebook »alle möglichen Content-Formen vom Textbeitrag bis zum Video mehr oder weniger gleich gewichtet« (Schlecky Silberstein), ist Tiktok »das Netzwerk der Stunde für in diesem Jahrtausend Geborene«, wo »in einem Tanzwettbewerb Zehntausende zu einem vietnamesischen Poplied stilisierte Händewaschbewegungen machen« (Sascha Lobo). Auf Tiktok betrachtet das überwiegend minderjährige Publikum Videos, die meist 15, maximal aber 60 Sekunden lang sind.

Der chinesische Anbieter Byte Dance hatte im Jahre 2017 das in Shanghai beheimatete Musical.ly, aus dem Tiktok hervorgegangen ist, gekauft, eine Musikplattform mit mehr als 140 Millionen Nutzern, wobei die Software vor allem wegen ihrer Technik für die Lippensynchronisation in Musikvideos interessant war. 15 Sekunden lang Comedy-Sketche oder hübsche Playback-Einlagen zu vorliegenden Popmusikschnipseln aufzuführen entspricht dem Geschmack der durchschnittlich neun- bis 15-jährigen und meist weiblichen Zielgruppe. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich jede Form kommerzieller Datenverwertung und Nutzer/innenmanipulation prima exerzieren.

Bereits vor sechs Jahren äußerte der deutsche Interneterklärbär Sascha Lobo den pointierten Satz »Junge Mädchen regieren das Internet«, als die 21jährige Bianca Claßen (damals Heinicke) mit ihrem Youtube-Kanal Bibis Beauty Palace junge Mädchen zum Kauf von Kosmetika und anderem Wohlstandsplunder verlockte. Während die Abonnentinnen von Claßens Kanal die Rolle von Zuschauerinnen und Claqueurinnen einnehmen, hat bei Tiktok das Selbstmachen einen deutlich höheren Stellenwert. Die Software gibt es ausschließlich für Smartphones mit Android- und iOS-Betriebssystem und sie enthält einen Programmteil, mit dem Nutzer/innen via Farbfilter und Effektwerkzeug Videos kinderleicht derart bearbeiten können, dass diese hernach ansatzweise professionell aussehen. Youtube ist so eingerichtet, dass eine Kamera und separate Schnittsoftware vonnöten sind, die die Produzentin in der Regel an einem PC einsetzt. Für 12jährige ohne PC ist das ein Hindernis.

Insofern gleicht das zugängliche und kurzatmige Tiktok dem Kurznachrichtendienst Twitter, während Youtube dem Alte-Leute-Portal Facebook entspricht: Einerseits, um es plakativ auszudrücken, sehen wir eine stark geschminkte dünne Teenagerin, die binnen 15 Sekunden einen »Tiktok Dance« lehrt, andererseits zweieinhalb Stunden den bedächtigen Thomas Ebermann, der auf einer dunklen Bühne Helmut Schmidt beleidigt. Das eine Video hat 33 Millionen Follower, das andere wurde 33mal mit einem »Mag ich« markiert. Umgekehrt ist’s nicht vorstellbar, denn die Tanzmamsell wäre bereits mit zwei Minuten Spielzeit überfordert, während Ebermann die 15 Sekunden nicht genügten, um einen halben Gedanken zu formulieren; Geld verdient Ebermann nicht mit dem Video, die Tiktok-Tänzerin hingegen, je nach Klickrate, durchaus.

Das Mindestnutzer/innenalter liegt bei Tiktok bei zwölf Jahren, doch wer weiß, dass das Durchschnittsalter in den Ab-18-Shootern der »Call of Duty«-Serie bei 15 Jahren liegt, weiß auch, was er von solchen Formalitäten zu halten hat. Der Anbieter Byte Dance zahlte vergangenes Jahr 5,7 Millionen US-Dollar Strafe, weil Tiktok gegen Gesetze zum Schutz Minderjähriger verstoßen und die US-Verbraucherschutzbehörde FTC ein Verfahren eingeleitet hatte. Verglichen mit den Milliarden, die Facebook wegen Datenschutzverstößen zu zahlen aufgefordert wurde, ist das Kleingeld.

Eine echte Altersüberprüfung findet nicht statt, da die Nutzerin keinen Nachweis erbringen muss, um die Tiktok-App herunterzuladen. Einzig eine Kontrolle durch Eltern, etwa mit Hilfe der Kontrollsoftware Google Family Link, verhindert, dass Kinder wie betäubt stundenlang Videos betrachten, in denen Mädchen zu Videos tanzen. Erfolg haben diese Videos, wenn ihre Macher zahlreiche Claqueure, sprich: Follower verbuchen können. Moderatorinnen und Moderatoren lenken den Erfolg, indem sie Videos mit bestimmten Inhalten gut oder schlecht sichtbar machen.

Wie das Portal Netzpolitik.org in einem Beitrag im Herbst 2019 erläuterte, werden die deutschsprachigen Videos von Berlin, Barcelona und Peking aus moderiert. Dort sitzen Teams, die Videos gemäß vager Vorgaben evaluieren. So kann es sein, dass Clips, die etwa die chinesische Staatspolitik kritisieren, gelöscht werden; in arabischen Ländern kann der/die Moderator/in Videos mit LGBTQI-Themen und religionskritischen Sujets als »nicht empfehlenswert« einstufen. Angeblich zum Schutz vor Bodyshaming löschen Moderatorinnen und Moderatoren Filme, in denen übergewichtige Menschen zu sehen sind. Insofern entsprechen jene dünnen ägyptischen Frauen äußerlich der gewünschten Zielgruppe.

Die Zurichtung hat Folgen: »Mir fällt auf, dass es zu 95 Prozent nur happy schlanke, gesunde Menschen auf den Videos sind. Randale oder Demos habe zumindest ich dort nicht gefunden«, schreibt der Nutzer Sam im Juni 2020 über seine Tiktok-Erfahrung. So beliefert der 17jährige weibliche Tiktok-Star jasi_xx3 rund 1,2 Millionen Follower mit Nichtigkeiten und besitzt seit diesem Frühjahr eine »kleine Babykugel«, wie das Kugel-Fachmagazin »Bunte« berichtet, was zeigt, dass Tiktok-Inhalte und -macher längst in den Alte-Leute-Medien angekommen sind. Der 20jährige britische TikTok-Musiker Curtis sagte dem britischen »Guardian«: »Wenn du gute Musik machst und die Muster in den Algorithmen erkennst, dann gibt es nichts, was du nicht tun kannst«, was den Erfolg von Tiktok-Künstlern im Musikbetrieb erklärt, wo mit Streamingdiensten wie Spotify die Zweitverwertung sichergestellt ist.

Der Do-it-yourself-Aspekt betrifft das Front-End, die Oberfläche. Im Back-End hingegen, im Unterbau der Onlinesoftware, findet die Datensammelei statt, die alle Inhalte des Smartphones betreffen kann und pädophile Aktionen übelmeinender Nutzer begünstigt. Da Byte Dance seine Algorithmen geheimhält, ist es kaum möglich zu wissen, welche Daten hin- und hersausen, während Tiktok läuft. Sicher ist, dass in kurzen, mitunter halbminütigen Intervallen der GPS-Standort des Smartphones abgerufen wird und Dritte sich leicht Zugang verschaffen können.

Entsprechend drohte die US-Regierung im August mit einem vollständigen Verbot von Tiktok, ja aller chinesischen Apps. Einem Bericht des Internetportals Golem.de zufolge tadelte Außenminister Mike Pompeo die chinesische Regierung dafür, dass sie sich »in den Besitz von Daten bringen« wolle, »die eine Erkennung der Gesichter von Millionen von US-Amerikanern ermögliche«. Präsident Trump hatte Anfang August US-Unternehmen verboten, Geschäfte mit dem Tiktok-Betreiber abzuschließen. Da ein komplettes Verbot drohte, begannen unter anderem die Unternehmen Microsoft, Walmart und Trumps Wahlkampfunterstützer Larry Ellison vom Datenbank-Hersteller Oracle wegen einer Übernahme des Tiktok-Geschäfts in den USA mit Byte Dance zu verhandeln (Stand 7. September).

Dass die US-Spitzenpolitik interveniert, beweist die ökonomische Attraktivität der Software, die letztlich in puncto Technik, Geschäftsmodell und Verachtung des Datenschutzes nur graduell anders funktioniert als die westlichen Social-Media-Dienste. Laut Golem wies Facebook-Chef Zuckerberg den US-Präsidenten anno 2019 auf die vermeintliche Gefährlichkeit des Videoportals Tiktok hin, das unter der Führung von Microsoft kaum weniger Daten saugen wird.

Zuckerberg war maßgeblich an der Grün-dung der IT-Lobbyorganisation American Edge beteiligt, die die überwiegend in den USA beheimatete Internetwirtschaft vor Externen schützen soll. Da Facebook wegen wettbewerbsrechtlicher Beschränkungen die Konkurrenz nicht selbst kaufen darf, ist der Konzern seit einiger Zeit damit beschäftigt, unter dem Namen Reels eine Alternative zu Tiktok auf die Beine zu stellen. Indes droht der Erfolg von Tiktok die Umsätze zu schmälern, denn die überalterte Klientel von Facebook und die schwindenden Wachstumsraten beim Werbeumsatz legen eine Ausweitung des Geschäfts nahe, was sich mit der Übernahme des Messaging-Dienstes WhatsApp ankündigte.

Zuckerberg und seine Branchenkollegen handeln nach der Devise Joseph Schumpeters, wonach »die schöpferische Zerstörung als wirtschaftliches Instrument« (Sascha Lobo) zum langfristigen Erfolg führe, oder, nach Zuckerberg: »Move fast and break things«, im Zweifelsfall mit komplett gedankenlähmenden 15-Sekunden-Videos – inklusive passgenauer Zielpersonenwerbung – und mit Drei-Tipp-Käufen. Das chinesische Original-Tiktok soll es seit längerem erlauben, etwa einen Hotelaufenthalt zu buchen, indem man in einem Video einfach aufs Portal des eingeblendeten Hotels tippt. Und wie man am besten hinkommt, wird auch angezeigt. Ein Traum!

Peter Kusenberg schrieb in konkret 9/20 über das Intellectual Dark Web