Wohin wir fahren und warum

Eiskalte Klassenräume, permanenter Lärm, mangelhafter Gesundheitsschutz, Verwaltungschaos und Beschwichtigungsstrategien: Eine Lehrerin berichtet vom Alltag an einer Berliner Schule in Zeiten der Pandemie. Von Liselotte Kreuz

Ich weiß nicht, was die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres morgens in ihren Kaffee tut, aber ich will unbedingt auch was davon haben. Es muss gutes Zeug sein. Und ich brauche gutes Zeug. Das von Frau Scheeres scheint immerhin zu bewirken, dass sie in einer Welt lebt, in der das Infektionsgeschehen an Berliner Schulen unter Kontrolle ist, so viele Corona-Tests zur Verfügung stehen, dass Erkrankungen zuverlässig festgestellt werden können, und die unter ihrer Leitung veranlassten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht wirken, als seien sie unter dem Einfluss zu vieler Tassen Kaffee mit dem guten Zeug drin entstanden. Ich will auch in dieser Welt leben.

Statt dessen laufe ich jeden Morgen brav in meine Schule und versuche in eiskalten Klassenzimmern zwischen Hoflärm und Flurlärm zu unterrichten, Schülerinnen zu erklären, dass die Abstandsregeln zwar auf dem Schulgelände nicht gelten, einen Meter davor aber schon und warum die eine Hälfte der Klasse 7d in Quarantäne geschickt wurde, die andere Hälfte jedoch nicht. Ab und an steht ein Mitglied der Schulleitung vor mir und teilt mir mit, dass eine meiner Schülerinnen positiv getestet wurde, worauf ich dann spontan entscheiden darf, ob ich jetzt besser in Quarantäne gehen sollte oder nicht. In Berlin hat das Gesundheitsamt nämlich endgültig aufgegeben und diese Aufgabe den Schulleitungen übertragen, die sie zum Teil an uns Lehrerinnen weitergeben. Und dann steht man da und denkt über Dinge nach wie Klassenarbeiten, die noch geschrieben werden müssen, die überlasteten Kolleginnen, die einen vertreten werden, und darüber, dass man keine Lust hat, schon wieder den Freundeskreis reihum zum Einkaufen zu schicken.

Richtig, das sind alles keine medizinischen Erwägungen, aber das kommt eben dabei heraus, wenn man Lehrerinnen über ihre eigene Quarantäne entscheiden lässt und nicht unabhängige Ärztinnen. Diese hätten vielleicht auch eine abweichende Meinung zu der zunehmenden Kälte in den Klassenzimmern, die von offizieller Seite verschiedentlich zu einem Problem angemessener Kleidung erklärt wurde. Wer das glaubt, kann sich gerne mal bei null Grad – in Berlin haben sich soeben die ersten Schneeflocken gezeigt – dick angezogen für 90 Minuten in einen zugigen Hausflur setzen, schön artig still sitzen bleiben und dabei irgendwas ordentlich in ein Notizheft schreiben, die Handschuhe bleiben zu Hause. Nach Beendigung der 90 Minuten darf man ein wenig auf- und abhüpfen, um sich aufzuwärmen, danach kommen die nächsten 90 Minuten Stillsitzen, der Prozess ist acht Stunden lang zu wiederholen. Die Kinder zeigen mir nach den Schulstunden ihre aufgesprungenen Finger, einzelne bringen Schlafsäcke mit in den Unterricht, um sich darin einzuwickeln. Wahrscheinlich liegt es an mir, wahrscheinlich lüfte ich falsch und deswegen zu viel, nicht wahr?

Das beste Lüften sei das sogenannte Querlüften, so haben wir erklärt bekommen, dieses setzt allerdings voraus, dass man einen Raum zur Verfügung hat, der auf zwei gegenüberliegenden Seiten mit Fenstern ausgestattet ist. Da ich in einem Klassenraum unterrichte und nicht im Restaurant des Fernsehturms, habe ich nur auf einer Seite des Raumes Fenster und lüfte die Aerosole schön in den Schulflur, damit wir auch in den Pausen etwas von ihnen haben. Um sicherzustellen, dass wir Lehrerinnen beim Lüften bloß keine Fehler machen, hat der Berliner Senat statt den in Schweden in fast allen Klassenzimmern eingebauten Luftfiltern mehrere CO2-Messgeräte gekauft, die die Luftqualität ermitteln und piepsen, wenn man lüften soll. In der Hoffnung, dass mir das Gerät erlaubt, die Fenster ein wenig länger als die empfohlenen 20 Minuten geschlossen zu lassen, habe ich mich mit dem Gerät bekannt gemacht und es ausprobiert, allerdings piepste es dann nach nur zehn Minuten, weswegen ich es schnell wieder weggestellt habe. Das Gerät und ich, wir tun jetzt so, als würden wir uns nicht kennen.

Auf das Problem der frierenden Kinder angesprochen, erklärte Frau Scheeres übrigens kürzlich, das sei zwar bedauerlich, es gebe aber nun mal keine Alternative zum Lüften, wenn man die Kinder schützen wolle. Und das ist natürlich vollkommen richtig, dann jedenfalls, wenn man zuvor entschieden hat, dass die Schulen mitten in einer globalen Pandemie unter allen Umständen den vollen Unterrichtsumfang leisten sollen, alle Klassenarbeiten geschrieben werden und sämtliche Abschlussprüfungen unverändert stattfinden müssen, dass man kein Geld in Luftfilter, FFP2-Masken oder Schnelltests investieren möchte und darüber hinaus im Sommer versäumt hat, das Gesundheitsamt mit genügend Personal zur Nachverfolgung und Unterbrechung von Infektionsketten auszustatten. Dann natürlich kann man tatsächlich nur noch die Fenster öffnen, beten schadet vielleicht auch nicht.

Zur Zeit geistert wieder die Meldung durch die Medien, dass zumindest FFP2-Masken und Schnelltests für das Schulpersonal bereitgestellt werden sollen. Da sich allerdings die schon vor den Herbstferien versprochene Lieferung von FFP2-Masken, als sie vorletzte Woche endlich an unserer Schule ankam, als große Kiste mit medizinischen Einwegmasken entpuppte und Versuche in meinem Kollegium ergaben, dass die bereits im Sommer angekündigten und dann tatsächlich eingerichteten Covid-19-Teststellen für Lehrpersonal bis zu 18 Tage brauchen, um das Testergebnis zu übermitteln, möge man mir nachsehen, dass ich nicht mehr alles glaube, was der Senat der Presse mitteilt.

Das Fundament von Frau Scheeres’ Wahngebäude ist übrigens die von ihr mantraartig wiederholte Aussage, das Virus werde von außen in die Schulen getragen, im Wechsel mit der Behauptung, nichts weise auf ein besorgniserregendes Infektionsgeschehen an den Schulen hin. Schon seit dem Sommer rätsele ich über die genaue Bedeutung beider Statements. Spielt das Zeug im Kaffee eine sehr große Rolle bei der Einstufung von Situationen als »nicht besorgniserregend«? Und meint sie, das Virus könne von einem anderen Ort als »außen« an die Schulen gelangen? Glaubt sie, so, wie es möglicherweise zunächst in China in Fledermäusen entstand, könnte es sich plötzlich in Berliner Schulkindern materialisieren, und es sei insofern zu begrüßen, dass dies bislang nicht der Fall sei? Oder möchte sie, darauf scheint die zweite Äußerung hinzuweisen, sagen, dass die positiv auf Covid-19 getesteten Schulkinder und Lehrerinnen sich auf keinen Fall in der Schule angesteckt haben
können? Falls ja: Woher will sie das wissen? Gerne verweist sie hier auf die trotz hoher Sieben-Tage-Inzidenzen sinkende Anzahl positiv getesteter Schulkinder und die ebenfalls sinkende Zahl der aufgrund von Covid-19-Infektionen geschlossenen Lerngruppen.

Das ist deswegen lustig, weil in Berlin, nachdem die Testkapazitäten der Stadt bereits Anfang Oktober an ihre Grenzen gerieten, im allgemeinen nur noch Menschen mit Symptomen getestet werden und alles darauf hindeutet, dass Kinder und Jugendliche einerseits häufiger als Erwachsene eine symptomfreie Infektion durchlaufen, andererseits dabei aber genauso ansteckend sind wie Menschen mit Symptomen. Symptomfreie infizierte Kinder bleiben also lange Zeit unentdeckt und können das Infektionsgeschehen in ihre Familien tragen. Und weil sie nicht positiv getestet wurden, dienen sie zudem als Argument dafür, dass das Infektionsgeschehen »nicht besorgniserregend« sei und ihre Lerngruppen nicht zu Hause bleiben müssen, Lerngruppen, die dann wieder als Indiz dafür herhalten müssen, dass Schulen allgemein kein Infektionsort seien. Es ist, als würde man auf der Titanic in dichtem Nebel durch ein Gebiet fahren, in dem sich wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge sehr viele Eisberge befinden, und die Kapitänin, die das Radargerät aus Kostengründen zu Hause gelassen hat, würde befehlen, schneller zu fahren, da schließlich keine Eisberge zu sehen und diese also nicht existent seien, um dann zu erklären, dass die Tatsache, dass man recht zügig fahre, ein eindeutiger Hinweis darauf sei, dass es hier keine Eisberge gebe, weil es andernfalls ja irre wäre, derartig schnell zu fahren.

An dieser Stelle fährt mein schönes Bild natürlich gegen die Wand, also den Eisberg: Der Bezirk, in dem sich meine Schule befindet, hat derzeit (Stand: 6. Dezember) eine Sieben-Tage-Inzidenz von 223 auf 100.000 Einwohner. Soll heißen: Das Wasser läuft längst ins Schiff, die Kapitänin unterdes gibt Pressekonferenzen, trinkt weiter von dem guten Kaffee und brüllt zwischendurch uns, die wir unten im Maschinenraum die Kohle in den Kessel schaufeln, zu, wir dürften jetzt nicht nachlassen, wir müssten weiterfahren, schnell vorbei an den Eisbergen, die gar nicht da seien. Und ich bin verrückt und mache das mit und versuche mir einzureden, dass es sehr wichtig ist weiterzufahren, dass wir auf keinen Fall langsamer fahren oder gar umkehren dürfen, denn zu vermeiden ist nicht die Kollision mit dem Eisberg, zu vermeiden ist die Frage, wohin wir überhaupt fahren und warum wir das tun.

 Liselotte Kreuz arbeitet seit zehn Jahren als Lehrerin in Berlin. Für die Wochenzeitung »Jungle World« schreibt sie die monatlich erscheinende Kolumne »Klassenkampf«