Shitslearning

In der Corona-Pandemie wird die Schule zu einer instrumentellen Digitalhölle – zum Leidwesen von Kindern, Eltern und Lehrerinnen, zur Freude von Bitkom und Mittelstand. Von Peter Kusenberg

»Es ist schwer zu sagen, in welchem
Ausmaß der Unterricht, besonders
in den Volksschulen, fabrikmäßige
Produktion von Irrsinn ist.«
E. A. Rauter: Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht

Habt ihr schon einmal mit euren Fingern gestrickt? Ich habe euch dazu eine Anleitung in eurem Werken-Ordner hinterlegt. Ihr braucht dazu Wolle und eure Finger. Probiert es aus, es ist gar nicht so schwer. Vielleicht entsteht ja ein nettes Weihnachtsgeschenk! Macht ein Foto von eurer Strickaktion und von eurem fertigen Produkt und schickt es mir auf Itslearning bis zum 22.12.20. Vielleicht gelingt euch ein schönes Weihnachtsgeschenk. Viel Spaß beim Fingerstricken!

In dieser Anweisung einer Lehrerin eines bundesdeutschen Gymnasiums an ihre Schüler/innen offenbart sich die Misere des digitalen Schulbetriebs. Wie soll ein Kind eine Handarbeit erlernen, wenn es allein vor dem Laptop sitzt und dort ein Video betrachtet? Wie elend muss sich die Lehrerin fühlen, die statt wollener Püppchen und Topflappen nur die digitalen Abbilder davon mit dem Mauszeiger aus dem Ordner klaubt? Wer zeigt dem linkshändigen Kind, wie es das Rechtshänderstricken im Video ins Linke übersetzen kann? Wie anders lässt sich derart vollständig der Spaß aus dem eigentlich spaßigen Fach Technisches Werken komplett herauspressen als mit Computer und Software?

Fehlt die Motivation bereits beim Fingerstricken, wie sieht’s dann erst bei Latein und Mathe aus, etwa nach den zwei mal zwei Stunden Zoom-Konferenz am frühen Morgen, auf der vor allem das Nichtfunktionieren der Software verhandelt wird und dem Kind bald der Nacken schmerzt vom krummen Sitzen vor dem niedrigen Gerät, die jungen Augen starr auf den Bildschirm gerichtet, wo nur Köpfe zu sehen sind, die über Ordner, Hochladen und Markierungen reden? Da mögen aus anderen als technischen Gründen reihenweise die Web-Kameras und Konferenzverbindungen der teilnehmenden Schüler/innen ausfallen.

Dabei mag das digitale Lernen für die bourgeoisen Kinder noch einigermaßen vertraut sein, da ihre Eltern im optionalen Homeoffice skypen. Doch sitzt die eigene Mutter bei Lidl an der Kasse und hantiert der Vater als Heilerziehungspfleger statt mit Macbook mit Urinflaschen, dann sitzt das Kind vielleicht allein vorm Smartphone und spielt lieber eine Runde Coin Master. Ist die Muttersprache eine andere als Digital-Deutsch, braucht’s vielleicht doppelt und dreimal so lange, bis es versteht, was es mit Meeting-ID, Kenncode und der Anton-App auf sich hat.

Die schlechte Alternative zum digitalen Lernen besteht in der Pandemie darin, dass vor allem die armen Kinder in virusfreundlichen Bussen und Bahnen zur Schule fahren, dort den ganzen Tag lang maskierte Gesichter sehen und mit den Autofahrereltern-Mitschülerinnen im Halbgruppenunterricht erfahren, dass es während des ganzen Jahres keinen Ausflug, geschweige denn eine Klassenfahrt geben wird. Die Eltern sind natürlich froh, wenn die Kinder zumindest die halbe Zeit in der Schule verwahrt sind, denn daheim drohen ungute Ablenkung und Einsamkeit, Bulimie, Hass-Internetforen und Mamas Whisky-Vorrat.

Man sollte also nicht die Frage nach dem Ob der Digitalisierung dessen stellen, was früher einmal unironisch Bildung hieß, sondern nach dem Wie und dem Womit. Es kann hier nicht um die zweckfreie, mit der Umwelt interagierende Humboldtsche Bildung gehen, von der bereits Adorno und Horkheimer annahmen, dass sie nur noch ex negativo zu fassen sei, also als eine, die im Idealfall nicht nach Auschwitz führe und immer die jeweilige Herrschaft in Frage stelle. In diesem Sinne sollte man eine Bildungspolitik als nicht vollständig misslungen betrachten, wenn sie zumindest nicht zur Halbbildung pervertiert wird, wie sie die FDP-Sorte Mensch schätzt: als selbstvergessenes Instrument egoistischer Interessenverfolgung, als Futter für den Klassendünkel und letztlich als »Todfeind der Bildung«.

Da im wesentlichen die Bundesländer die Schulpolitik bestimmen, ergeben sich regional höchst unterschiedliche Maßnahmen zur Digitalisierung des Schulbetriebs, was hitzig debattiert wird von weisungsgebundenen Lehrerinnen, den Elternverbänden, den Schülerinnen und Bildungsbehörden. Im Bundesland Bremen etwa vermittelte der Senat in den Monaten vor Weihnachten Zehntausende Leih-I-Pads an Schüler/innen und Lehrer/innen, um einheitlichen Distanzunterricht zu ermöglichen. Das erregte Unmut, nicht zuletzt weil der größte Teil der
annähernd 17 Millionen Euro Anschaffungskosten in die Taschen des US-Konzerns Apple flossen. Kritiker/innen bemängelten den im Vergleich mit Android-Geräten höheren Preis von circa 500 Euro pro Gerät und die Entscheidung für Tablets statt Notebooks. Indes spendierte der Senat jedem Schüler eine erstklassige Tastatur des Herstellers Logitech sowie Apples Classroom-App. Dabei handelt es sich um ein Steuerungsprogramm, mit dessen Hilfe die IT-Abteilungen der Behörden die Installation und Aktualisierung definierter Programme überwachen. So werden die Bremer Schüler/innen keine Spiele, Tiktok oder Spotify aus Apples Appstore laden können, sondern vorliebnehmen müssen mit den Lern-, Informations- und Schul-Apps, die zur Installation freigegeben sind. Das Hardware- und Vertriebs-Konzept ist nicht übel, indes bleibt das Problem der zentralen Lernsoftware, etwa Itslearning.

Das Programm entstand vor rund 20 Jahren als Projekt norwegischer Studentinnen und entwickelte sich zu einer kommerziellen, vielseitigen Lern- und Kommunikationsplattform im Schul- und Bildungswesen. Die Schulen kontrollieren den Zugang der Schüler/innen zu Materialordnern, Videotutorials sowie klassenbezogenen und individuellen Nachrichten. Trotz der langen Reifezeit von Itslearning sah die Sache zu Beginn der Corona-bedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 nicht gut aus: Die Server brachen unter der Vielzahl der Anfragen zusammen, die Lehrkräfte nutzten die Plattform auf je eigene Weise, und die Einweisung der Schüler/innen war unzureichend und wegen der unterschiedlichen Hardware frustrierend. Die Unkenntnis digitaler Infrastruktur zeigte sich am lustigsten in Schleswig-Holstein, wo das zuständige Ministerium den Einsatz von Itslearning mit »sh.itslearning« bewarb.

Doch nicht alle Schulen nutzen Shitslearning, die Systeme SchulCommSy und das Braunschweiger System Iserv sowie Logodidact sind gleichfalls im Einsatz – mit jeweiligen Stärken und Schwächen. Die Systeme wurden im Kontext von Hochschulen und Universitäten entwickelt, anders als etwa der ubiquitäre Instant-Messenger Whatsapp der Firma Facebook, den der niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne als Mitteilungswerkzeug empfahl – zum Ärger der eigenen Datenschutzbeauftragten.

Es rächt sich also, dass die verantwortlichen Politiker/innen die Einführung funktionierender digitaler Infrastruktur jahre- und jahrzehntelang hemmten und sich mit Whiteboards und anderem Schnickschnack begnügten, der das Gewohnte nicht in Frage stellte und die Möglichkeit sabotierte, das Digitale in Gestalt von Open-Source-Materialsammlungen, -Terminkalendern und digitalen Textvorlagen für Klassenarbeiten in den Schulalltag zu integrieren, ohne dem Drängen von Microsoft, Bitkom und FDP zur kompletten Halbverbildung nachzugeben.

Seit Anfang 2020 alternieren die Pressemitteilungen des Branchenverbands Bitkom zwischen dem Jubel über Wachstum bei schulischen IT-Investitionen und den Ermahnungen, die Digitalisierung schneller voranzutreiben, gekrönt von der Forderung im Januar 2021, »einen Rechtsanspruch auf digitalen Unterricht für Schüler aller Schulformen« durchzusetzen. Die Spitzenpolitik sekundiert, etwa in Gestalt der Bundesstaatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär (CSU), die meint, die Länder hätten sich »an unseren Kindern versündigt«, indem sie eine bundeseinheitliche Lernplattform verhinderten. Parteikollege Alexander Dobrindt hält gar Corona für »die Betriebsprüfung für unser Bildungssystem« und möchte »unser« Bildungssystem »ambitioniert weiterentwickeln – nach der klaren Maßgabe: moderner, flexibler, digitaler« – möglichst also nach den Wünschen der Industrie.

Die bürgerliche Presse sympathisiert überwiegend mit solchen Äußerungen und überzieht die konventionelle Schulpolitik mit Häme. »Taz«-Autorin Nadine Conti schreibt: »Dieses akute Bauchweh hängt vor allem damit zusammen, dass im deutschen Bildungsbürgertum seit Jahrzehnten die Auffassung gepflegt wird, Bildschirme seien böse ... Immer ist nur von den Gefahren die Rede gewesen, der verheerenden vollrauschartigen Wirkung auf das arme Kindergehirn, der unweigerlichen Vernichtung von Kreativität, Konzentrationsvermögen und motorischen Fähigkeiten.« Offensichtlich hat Frau Conti noch nie einen Grundschüler dabei beobachtet, wie er während einer Online-Konferenz von einem denkenden, fühlenden und späßelnden Wesen zu einem stumpf starrenden Digital-Zombie mutierte.

Es gibt keinen Ausweg aus dem Dilemma, einzig die Hoffnung, das Falscheste zu verhindern. Zum Glück gibt es keinen Zentralstaat, der im Verbund mit Großunternehmen die digitale Zurichtung der Schülerschaft steuert, sondern ein Wirrsal aus Inkompetenz, gutem Willen, Bildungsauftrag und der Willensstärke idealistischer Lehrer/innen, Kenntnisse in Anwendungs-IT zu erwerben und nicht zu verzweifeln, wenn das Dienstprogramm Logineo keine Nachrichten weiterleitet oder das bayerische Lernsystem Mebis einen Schulvormittag lang ausfällt.

Das Potpourri fehlerhafter Systeme stellt zwar nicht die Grundlage kapitalistischer Wirtschaft in Frage, also den Erhalt von Arbeitskraft und Arbeitsfähigkeit der Eltern, doch es hemmt die totalitäre Digitalisierung, wie sie der Technikkritiker Evgeny Morozov mit dem Begriff des »Solutionismus« beschreibt, dem vom Interesse geleiteten Glauben, dass Technik in der Lage sei, für jedes Problem eine Lösung bereitzustellen. Der amerikanische Autor Jarett Kobek bringt es auf den Punkt, wenn er über ein Lernprogramm schreibt: »Litmos erlaubte es Unternehmen, Videos und Schulungsmaterialien zu erstellen, die nach den erzblöden und schlecht durchdachten Prinzipien des E-Learning arbeiteten, einem kurzlebigen System der Pädagogik, das von Menschen entworfen wurde, die Lehrer und formale Bildung hassten.«

Peter Kusenberg liest gern dadaistische Itslearning-Chats nicht-zombifizierter Schüler/innen und Lehrer/innen