VON konkret

Vor zehn Jahren begann der »Arabische Frühling«, und mit ihm, so war damals in der »Zeit« zu lesen, »eine Zeit der Hoffnung«. Der Westen jubelte, als die Bevölkerung jener Region, die er vor kurzem als koloniales Trümmerfeld zurückgelassen hatte, sich gegen ihre neuen Unterdrücker wandte. Obwohl man mit denen lange gute Geschäfte gemacht hatte, hoffte man nun offenbar auf noch bessere: auf Demokratie und Pressefreiheit.

Statt dessen versank die Region in Armut, islamistischer Restauration und Bürgerkrieg. Tunesien, das einzige Land, das zumindest nominell als Demokratie aus den Protesten hervorgegangen ist, ist so bankrott, dass die Bevölkerung nun erneut auf die Straße geht. Der »Arabische Frühling« war, sagen nun seine einstigen Claqueure, nichts anderes als ein »schreckliches Fanal«. Die »Tagesschau« meldet:

Zehn Jahre danach ist von der Aufbruchstimmung nicht mehr viel übriggeblieben. In Syrien führt Baschar al-Assad Krieg gegen das eigene Volk, in Ägypten regiert der autoritäre Alleinherrscher Abd al-Fattah as-Sisi mit brutaler Hand, nur zwei traurige Beispiele auf einer langen Liste. 

Die desaströsen Folgen der Aufstände, die der Westen, angefeuert von seinen Propagandamedien, tatkräftig unterstützte, waren absehbar, auch weil sie in konkret unverzüglich beschrieben und kommentiert worden waren. Etwa in konkret 6/11 in Hermann L. Gremlizas Kolumne mit dem Titel »Amerika akbar«:

Ägypten, Syrien, Libyen, Irak, Jemen und so weiter werden nicht demokratischer oder sonstwie westlicher. Die Mittel reichen gerade, einer sehr kleinen Schicht das Leben angenehm zu machen. Für die armen Massen bleibt nichts übrig als Gewalt oder religiöser Wahn, der sie aufs Paradies vertröstet. Ikonen des Nation building im Süden sind die Saddam Husseins einer-, die Ahmadinedschads andererseits. Ein Drittes gibt’s nur im LK Gemeinschaftskunde oder bei Fa. Maischbrit Willner & Cie., Propaganda en gros.  

Kaum genesen ist der Stand-up-Kreml-Kritiker Alexei Nawalny in das Land zurückgekehrt, dessen Regierung angeblich versucht hatte, ihn zu vergiften. Er ist dort zur Überraschung der westlichen Medien und eines besonders dämlichen deutschen Außenministers nicht von einem Kinderchor, sondern, wie von der zuständigen Justiz angekündigt, von der Polizei empfangen worden. Anlass zur Hoffnung in dieser so tristen wie albernen Angelegenheit gibt allein, dass sowohl Nawalnys Rückkehr nach Russland als auch die Reaktionen des Westens auf seine Verhaftung Stoff für eine Fortsetzung der Posse liefern, die Kay Sokolowsky dazu für dieses Heft (S. 29) verfasst hat.

Anlässlich des vorläufigen Urteils, mit dem ein Londoner Gericht die Ausweisung Julian Assanges an die USA verweigerte, war in der »Berliner Zeitung« vom 16. Januar 2021 zu lesen:

… der Fall Assange wird einmal Jurastudenten beschäftigen, und einige werden sich fragen: Kann das eigentlich alles echt gewesen sein? Und spielte dieser Fall tatsächlich im sogenannten freien Westen und nicht doch eher in China, dem Iran oder Belarus?

Nun gilt noch heute, dass man nicht weiß, was sich genau zugetragen hat, auch weil das eh nie rauskommt. Aber einen Hinweis darauf, warum sich dieser Fall im »freien Westen« ereignen konnte, könnte der Jurastudent der Zukunft erhalten, wenn er einen Blick ins Editorial von konkret 5/19 werfen und die dort gestellten Fragen beantworten würde:

In welchem Kodex welchen internationalen Rechts ist die Veröffentlichung geheimer Dateien, die die Tötung von Zivilisten (durch amerikanische Truppen in Afghanistan und anderswo) dokumentierten, eine Straftat – und nicht etwa ein Grund, dem Anzeiger des Verbrechens sämtliche humanitären Preise zu verleihen (den allzu albernen Friedensnobelpreis einmal ausgenommen)? Wohin ist der alles dominierende Vorwurf gegen den Wikileaks-Gründer, er habe zwei Schwedinnen vergewaltigt, verschwunden? Hat seine Schuldigkeit getan, kann gehen? Womit haben die USA den ecuadorianischen Präsidenten Moreno erpresst, Assange auszuliefern? … Letzte Frage: Hat Assange die Chance, seine demokratisch-rechtsstaatliche Befragung zu überleben? Fragen Sie Carl von Ossietzky. Ob Julian Assange dem einen als dessen Nachfolger erscheint oder vielen anderen nicht, weil er aus seinem Londoner Knast doch zuviel reaktionären, gelegentlich faschistischen Mist in die Welt gepustet hat: Für die Rechte einer wehrlosen Menschheit hat er mit seinem »Verrat« mehr getan als alle seine Feinde. Und wenig genug gegen das, was die Achsen des Guten täglich an der Menschheit verbrechen.