Lebende Litfaßsäulen

Hauptsache, die Klickmaschine läuft: Ein neues Buch analysiert das Treiben der sogenannten Influencer. Von Fabian Lichter

Die Geschichte der Zivilisation, das wussten schon Adorno und Horkheimer, ist eine zu Lasten des Verhältnisses vom Menschen zum Körper. »Die Hassliebe gegen den Körper«, heißt es in der Dialektik der Aufklärung, »färbt alle neuere Kultur. Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt.«

Das zeigt auch das Buch Influencer – Ideologie der Werbekörper von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt, das sich dem Leser – ganz im Sinne der darin analysierten Werbetechniken – in einer adäquaten Ästhetik präsentiert. Der Körper, der den Titel ziert, zeigt sich kopflos, nur den klassischen »Like-Zähler« auf dem Hals, denn, so wird es im Buch ausführlich entwickelt: Der moderne Werbekörper der auf Instagram und Youtube sich gerierenden Klickmillionäre ist in vielerlei Hinsicht abgeschnitten von seinem Kopf.

Diese Herleitung erfolgt dabei alles andere als witzlos, etwa wenn die Autoren nüchtern nacherzählen, wie eine Influencerin nach erlittenem Hitzschlag und einem daraufhin live im Netz dokumentierten Krankenhausaufenthalt ihre Follower mit den Worten beschwichtigt, es sei im Prinzip nichts passiert, sie sei nur auf den Kopf gefallen. Der männliche Körper hingegen, der vornehmlich unter Anleitung martialisch anmutender Coaches und Fitness-Influencer gestählt wird, obwohl es für die Arbeit im Shared-Office nicht den geringsten Mehrwert bietet, ein Kreuz wie ein Barbar zu haben, lässt den Kopf im Vergleich zum aufgepumpten Rest wie eine Erbse erscheinen.

Klassisch ideologiekritisch wird es, wenn die Autoren zeigen, dass sich auf der Bewusstseinsebene wiederholt, was in der ästhetischen sich abspielt. Dass die meisten Influencer sich ihrer Funktion wohl tatsächlich nicht bewusst sind, da sie – zumindest ihre erste Generation – letztlich schon als Ware in einen neuen Werbemarkt hineingewachsen sind, den sie selbst ermöglicht und eröffnet haben. Ökonomischer Background der schönen neuen Influencer-Welt, die mit dem Anfang der Zehnerjahre entsteht, ist ein globalisierter Kapitalismus, der spätestens nach der Finanzkrise 2008 hat einsehen müssen, dass im postfordistischen Zeitalter die Bedürfnisse der Menschen weitestgehend gesättigt, die sagenhaften Profitsteigerungen der siebziger Jahre folglich nicht mehr zu erreichen sind und alle Hoffnungen an der Werbung haften. Und tatsächlich, so die Autoren, ist mit der Geburt des Influencers noch einmal möglich geworden, was Anzeigen- und TV-Werbung nicht zu schaffen vermochten und was deren Macher nicht zu träumen wagten: Werbung als eigentlichen Inhalt zu etablieren, begeistert geklickt, konsumiert und geteilt. Getragen durch Tech-Giganten wie Facebook und Google, die 99 Prozent ihrer Einnahmen aus Werbung speisen und die nötige Infrastruktur bereitstellen, denn ohne sie läuft nichts. Auch der vermeintlich freie Influencer, das wird in der Abhängigkeit von den Plattformen deutlich, hat nichts zu verkaufen als sich und seine Pool-Selfies. So zeigen Nymoen und Schmitt, warum die fetten Jahre, trotz Rekordgewinnen im Silicon Valley, vorbei sind und warum neue Wirtschaftswunderhoffnungen notwendigerweise zerplatzen müssen, wo mit nichts als mit schönem Schein gehandelt wird.

Das alles liest sich stellenweise wie eine Fortführung des Kulturindustrie-Kapitels der Dialektik der Aufklärung, etwa wenn von der Verdoppelung des Status quo die Rede ist, für den der Influencer nun mal zuständig ist, und dem dadurch notwendig exorzierten Geist, der Absage an Kunst, Lust und Transzendenz zugunsten einer Welt, die ausschließlich noch zeigt, was man schon kennt: das Kreisen um Konsum, Arbeit und den eigenen Körper. Trotz allem Körperkult aber überraschend prüde. Am Ende der Geschichte sind alle individuell und gleichen sich doch auf ermüdende Art, nichts irritiert mehr, und selbst das Scheitern muss eine Chance sein – so ist es im Kodex neoliberaler Selbstertüchtigung festgelegt, und so wissen es auch die in Motivationssprüchen bestens geschulten sogenannten Netzpromis vorzubeten.

Immer wieder bedienen sich die Autoren für die Entfaltung ihrer Gedanken, ganz nach dem Vorbild Siegfried Kracauer, des Films, der, so Nymoen und Schmitt, mit Auftauchen der sozialen Netzwerke seinen kulturellen Stellenwert endgültig eingebüßt hat. Mit der Reduktion Hollywoods auf eine Industrie einzig noch zur Produktion von einander gleichenden Marvelverfilmungen und Superheldengeschichten, so die Diagnose, ist die letzte Verbindung zum Gesellschaftsprozess endgültig gekappt worden. Das Kino der Neunziger und der Nullerjahre, von Bret Easton Ellis’ Patrick Bateman aus »American Psycho« bis Carrie Bradshaw aus »Sex and the City«, habe die neuen Werbekörper, die jetzt über unsere Smartphonedisplays tanzen, bereits in sich angelegt gehabt.

In kurzen Szenen aus der Influencerwelt, die jedem Kapitel vorangestellt sind, zeigen Nymoen und Schmitt, dass die genaue Betrachtung des Phänomens Influencer vollends genügt, um die Eindimensionalität der »lebenden Litfaßsäulen« festzustellen. Doch leistet das Buch mehr, denn eine solche Eindimensionalität können sich in diesen Tagen selbst Influencer nicht mehr leisten, weshalb in unregelmäßigen Abständen Tiefe und Anteilnahme vorgegaukelt werden müssen, etwa im Engagement für eine bessere Welt im Namen des Klimas und »woken« Themen wie Diversity oder Antirassismus: »Die Influencer posteten am #BlackoutTuesday auf Instagram keine Storys und keine Fotos, nur eine schwarze Kachel wurde geteilt. Die offizielle Botschaft lautete: ›Wir hören euch zu‹, doch selbst diese Passivität konnte nicht ohne Verweis auf das gewissenhafte Verhalten der Netzstars stattfinden.« Stolz versichert man einander anschließend, wieviel man dabei gelernt habe. Hauptsache, die Klickmaschine läuft.

So wird noch fleißig vom Elend der Welt profitiert, wo man womöglich tatsächlich glaubt, etwas Gutes zu tun. Außerdem gehen Nymoen und Schmitt der Frage nach, warum sich in der Sphäre der Influencer sexistische Strukturen und eine entsprechende Ästhetik herausbilden, Stichwort male gaze, und alte Rollenbilder geradezu vorgelebt werden. Und es wird deutlich, wie gerade im ständigen Gerede um vermeintlich politische und kritische Inhalte in erster Linie einer Entpolitisierung des Politischen Vorschub geleistet wird.

Ole Nymoen, Wolfgang M. Schmitt: Influencer – Die Ideologie der Werbekörper. Suhrkamp, Berlin 2021, 192 Seiten, 15 Euro

Fabian Lichter schrieb in konkret 6/20 über Dieter Nuhrs untote Kabarettriege