Déjà-vu

Der »Ermittlungserfolg« in Sachen NSU 2.0 offenbart, dass Polizei und Justiz sich seit dem Desaster der NSU-Ermittlungen nicht geändert haben. Von Florian Sendtner

Am 4. November 2011 flog der NSU auf, und in den Tagen und Wochen danach offenbarte sich eine derart systematische Fehlleistung der Ermittlungsbehörden in all den Jahren davor, dass man nur sagen kann: Der Ausdruck »Freund und Helfer« trifft es am besten – aus Sicht des NSU. Nach jedem der zehn zwischen 2000 und 2007 verübten Morde konnten die Mörder auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzend die »Nacharbeit« der Kriminaler feiern. Man ermittelte konsequent und unbeirrt von aller Evidenz der Indizien in die falsche Richtung, verdächtigte die Hinterbliebenen, also Personen nichtdeutscher Abstammung. Das gelang den Beamten sogar noch, als das Mordopfer deutscher Abstammung war, bei der Polizistin Michèle Kiesewetter – da nahmen sie zufällig in der Nähe des Tatorts anwesende Roma ins Visier. Das NSU-Trio und seine bis heute unbehelligten Helfershelfer hatten nach jedem Mord und jedem Bombenanschlag doppelten Grund, die Sektkorken knallen zu lassen: erstens den Triumph der Tat selbst, zweitens die Ermittlungen der Kriminalpolizei.

Als nun am 3. Mai 2021 ein Tatverdächtiger in Sachen NSU 2.0 festgenommen wurde, tat sich erneut ein Abgrund an Dilettantismus und augenzwinkernder Fahrlässigkeit bei Polizei und Justiz auf, die ermöglichten, dass Alexander M. (53) jahrelang ungestört rechtsextremen Terror verbreiten konnte.

Alexander M. ließ, ganz ähnlich wie Mundlos/Böhnhardt/Zschäpe, über viele Jahre nichts unversucht, mit Naziterror auf sich aufmerksam zu machen. Indes, man ließ ihn gewähren und belangte ihn nur, wenn es gar nicht anders ging. Nun könnte man argwöhnen, rechtsextreme Straftaten stießen eben auf eine Justiz, die auf dem rechten Auge blind ist. Als wollte er diesen Systemfehler ausschließen, bedrohte Alexander M. sogar den Leiter der Berliner JVA Moabit, in der er zuvor dreieinhalb Jahre abgesessen hatte, telefonisch mehrfach mit dem Tod. Vergebens, nach jahrelangem Kreißen gebar die Berliner Justiz eine Bewährungsstrafe.

Gefährliche Körperverletzung, Betrug, Amtsanmaßung – Alexander M.s Vorstrafenregister ist lang und breit gefächert, doch seine Spezialität ist die Bedrohung. Am 6. Februar 2017 ruft er dreimal hintereinander bei dem Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun an und droht ihm und seinen Kindern den Tod an: »Deutschland den Deutschen, Sieg Heil!« Er erklärt auch, warum: Chan-jo Jun vertritt einen syrischen Flüchtling, der Facebook zwingen will, gefälschte Fotos und Verleumdungen gegen ihn zu löschen. Chan-jo Jun ist einiges gewohnt, doch da der anonyme Anrufer Juns Adresse und die Namen seiner Kinder nennt, erstattet er Anzeige. Es gelingt, den Anruf zu einer Wohnung in Berlin-Wedding zurückzuverfolgen. Und was passiert? Am 13. März 2017 stehen zwei Polizeibeamte vor M.s Tür. Ohne Durchsuchungsbefehl, nur mal bisschen reden: »Gefährderansprache«. Alexander M. bittet die Beamten überraschenderweise nicht herein. Mit dem Durchsuchungsbefehl lässt sich die Staatsanwaltschaft Würzburg Zeit bis zum 4. Mai 2017. Siebeneinhalb Wochen bleiben Alexander M., seine Wohnung und seine Computer von allen Beweismitteln hinsichtlich der Bedrohung und vorherigen Ausspähung des Würzburger Anwalts zu reinigen. Als die Staatsanwaltschaft dann doch noch Anklage gegen Alexander M. erheben will, wird das vom Landgericht Würzburg – Überraschung! – abgelehnt: Die Hausdurchsuchung habe schließlich nichts ergeben.

Die Ablehnung der Anklage ist auf den 23. Juli 2018 datiert. Es wird ein paar Tage gedauert haben, bis die Justiz Alexander M. die freudige Mitteilung machte, dass auch diese Morddrohung für ihn ohne Folgen bleiben würde. Alexander M. muss sich dadurch endgültig ermuntert gefühlt haben. Am 2. August 2018 ging das erste Drohfax mit der Unterschrift »NSU 2.0« bei Seda Başay-Yıldız ein. Die Frankfurter Rechtsanwältin hatte im NSU-Prozess, in dem erst am 11. Juli 2018 das Urteil gesprochen worden war, die Hinterbliebenen des ermordeten Nürnbergers Enver Şimşek vertreten. Die Serie von Drohungen per Fax, E-Mail oder SMS, unterzeichnet mit »NSU 2.0«, zieht sich von August 2018 bis weit ins Jahr 2021 hin. Bislang sind 133 Drohschreiben registriert, erhalten haben sie neben einschlägigen Institutionen größtenteils Frauen, vornehmlich solche, die Nazis wie M. als links und »undeutsch« verdächtig sind.

Die Frage, wie Alexander M. an all die privaten Daten kam, mit denen er seine Opfer einzuschüchtern wusste, ist noch nicht geklärt. Während die Polizei noch jubelte, endlich von dem infamen Verdacht befreit zu sein, der Drohbriefschreiber stamme entweder aus ihren eigenen Reihen oder sei zumindest mit der Polizei vernetzt (was noch keineswegs vom Tisch ist), kristallisierte sich schnell eine andere, einfachere Möglichkeit heraus, die von der »FAZ« so auf den Punkt gebracht wurde: »Deutsche Polizei, die Telefonauskunft für Drohbriefschreiber«. Alexander M. könnte schlicht bei der Polizei angerufen und sozusagen um Amtshilfe gebeten – und diese erhalten haben.

Währenddessen wird vor dem Oberlandesgericht München gegen die Nürnberger Nationalsozialistin Susanne G. (55) verhandelt, die dringend verdächtigt wird, fränkische Bürgermeister, Landräte und Moscheegemeinden mit Morddrohungen überzogen und auch bereits Vorbereitungen getroffen zu haben, diese in die Tat umzusetzen. Auch gegen den pensionierten Landshuter Polizeibeamten Hermann S. (64), der Drohmails mit der Signatur »NSU 2.0« verschickt und unerlaubt Waffen besessen haben soll, hat die Generalstaatsanwaltschaft München Anklage erhoben. Ein Trittbrettfahrer von Alexander M., sagen die Ermittler. Und, sowieso, ein Einzeltäter. Wie immer. Wie alle.

Florian Sendtner schrieb in konkret 4/21 über den Antiziganismus der Baden-Württembergischen Polizei