Die Plattmacher

Erst feierten die Medien Annalena Baerbock als grüne Hoffnungsträgerin. Jetzt werfen sie mit Dreck nach ihr. Von Bernhard Torsch

 

Am 4. Juli ließ die »Taz« in jenem Ton, den in deutschen Firmen üblicherweise Chefs und Abteilungsleiter bellen und der für das suizidale Wohlfühlklima in der hiesigen Arbeitswelt mitverantwortlich ist, der bisherigen Grünen-Spitzenkandidatin für die Bundestagswahlen 2021 ausrichten: »Es ist vorbei, Baerbock!« Als dieser Text entstand, war noch nicht klar, ob die Grünen dem Befehl ihrer Hauszeitung folgen und Annalena Baerbock gegen Robert Habeck austauschen würden.

»Ach wie so trügerisch sind Medienherzen«, mochte Frau Baerbock traurig singen, falls sie die Schlagzeilen dieses Sommers mit denen des Frühlings 2020 verglich. Kay Sokolowsky hat für konkret 6/21 ein paar Blüten, die Journalisten ohne Stil Baerbock vor die Füße streuten, gesammelt: »Die Frau für alle Fälle« (»Spiegel«), »Die grüne Zauberin« (»FAZ«), »Eine wie keine« (»Zeit«) – in diesem Tonfall ging das monatelang und wurde mit Meinungsumfragen unterfüttert, die die Grünen schon weit vor der Union sahen. Doch diese amour fou zwischen den Verlautbarungsorganen des Kapitals und einer Grünen-Spitzenpolitikerin ging so rasch zu Ende, wie sie begonnen hatte, und quasi über Nacht war nur mehr von zu spät gemeldeten Zusatzeinkünften, einem geschönten Lebenslauf und Plagiatsvorwürfen zu lesen – und von immer schlechteren Umfragewerten.

Bei den zu spät, aber doch gemeldeten Sondereinkünften handelte es sich um 25.000 Euro, die Baerbock von ihrer Partei als »Weihnachtsgeld« bekommen hatte. Das ist, wohlgemerkt, Teil des ganz normalen Gehalts einer Grünen-Funktionärin, denn die Partei pflegt die Ihren nicht monatlich, sondern jährlich zu entlohnen. Dass das eine Summe ist, die der durchschnittliche Lobbyist und Gewerkschafterbestecher locker an einem Abend verfrisst, versäuft und verhurt, ist juristisch irrelevant, sollte aber aus Gründen der moralischen Verhältnismäßigkeit nicht vergessen werden. Ihr geschönter Lebenslauf ist keine Fälschung, sondern die in der »Leistungsgesellschaft« übliche Aufhübschung, und die »Plagiate«, die man in ihrem Buch Jetzt. Wie wir unser Land erneuern (siehe den Beitrag auf Seite 49 dieser Ausgabe) fand, sind durchweg zu vernachlässigen und die wenigsten davon wohl justiziabel. Dass sie das Buch nicht selbst geschrieben hat, tut rechtlich und politisch nichts zur Sache.

Wieso also plötzlich der Liebesentzug von fast allen Seiten? Und wieso trifft ein solcher nicht etwa den Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet, der die Covid-19-Pandemie dazu nutzte, dem Unternehmen Van Laack, bei dem Laschets Sohn als Influencer schafft, ohne Ausschreibung rund 40 Millionen Euro für Schutzausrüstung zuzustecken, und der im Juni im NRW-Landtag der selbst für Nazi-Verhältnisse erstaunlich dummen Aussage eines AfDlers, wonach es »keine Wissenschaft gibt«, zustimmte? Und was an Baerbocks Schlampereien ist schlimmer als das, was der SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz in Hamburg verbrochen hat? Scholz, der dem Einsatz von zwangsweise verabreichten Brechmitteln gegen mutmaßliche Kleindealer zustimmte, was den qualvollen Tod mindestens eines bedauernswerten Menschen zur Folge hatte? Scholz, der frech in alle Kameras log, bei den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 hätte es »keine Polizeigewalt« gegeben, obwohl seine Schlägertruppe sogar Journalisten vor laufender Kamera verprügelte?

Warum sollen diese lügenden und völlig gewissenlosen Kreaturen eher für das Kanzleramt geeignet sein als Annalena Baerbock? Eben deswegen. Baerbock hat mit ihrer lässigen Haltung gegenüber der Meldepflicht von Sondereinkommen und ihrer Bereitschaft, die Wahrheit ein bisschen zu verbiegen, ja durchaus signalisiert, dass sie das Zeug zu jenem Grad an moralischer Verkommenheit hat, den man für diesen Posten mitbringen muss, und das Programm der Grünen liest sich wie das Libretto eines Wunschkonzerts von Industrie und Agrarkonzernen, denen die Grünen versprechen, die ohnehin unvermeidbaren Technologiewechsel aus Steuerzahlertaschen zu finanzieren. Sozialpolitik kommt nur in Form von Gummiformulierungen und Allgemeinplätzen vor, eine Abkehr von Hartz IV wird nicht einmal in Erwägung gezogen.

Das deutsche Kapital hätte von einer Baerbock als Kanzlerin nichts zu befürchten, aber viel mit ihr zu gewinnen. Woher also der Wunsch, es möge doch der Habeck übernehmen? Weil, so schrieben es schon einige Kommentatoren, dieser »über Regierungserfahrung« verfüge. Aus dem Herrschaftsdeutsch übersetzt heißt das: Er hat schon bewiesen, dass er auf keinen dummen, also klugen Gedanken kommt, zu jedem politischen Verbrechen bereit ist und jedes Spurenelement irgendwann vielleicht einmal vorhandener Gesellschaftskritik erfolgreich aus seinem Denken getilgt hat. Baerbock hat sich zwar nach Kräften bemüht zu signalisieren, ebenso verlässlich die Interessen der herrschenden Klasse zu vertreten, allein: Sie hat es noch nicht bewiesen, und es besteht ein Restrisiko, dass sie als Kanzlerin einen Anfall von Anstand erleiden könnte.

Deshalb und weil sich das Kapital nun, da sich die Frage stellen wird, wer die Kosten für die Corona-Krise zu tragen hat, eine Regierung mit einer weit nach rechts gewendeten Union und einer willigen SPD oder – falls es sich ausgeht – auch einer FDP oder AfD wünscht, will man in den Vorstandsetagen kein Risiko eingehen, wie klein es auch immer sein mag. Daher setzte man die besten Rufmörder auf Baerbock an und wählte die aus Sicht der Baerbock-Feinde klügste Strategie, nämlich ihre Kernwählerschaft emotional gegen sie aufzubringen. Wie man das macht? Indem man ihre akademischen und sonstigen intellektuellen Leistungen in Verruf bringt. Nichts nimmt ein Aufsteiger, der dank einstiger sozialdemokratischer Reformen studieren und Karriere machen konnte, übler als das Gerücht, jemand habe weniger »hart gearbeitet« und sei dennoch weiter nach oben gekommen als er. Und nur wenig anderes macht Schriftstellerinnen so wütend wie der Verdacht, jemand könne ein Buch voller Plagiate veröffentlicht haben.

Annalena Baerbock ist aber nicht nur »ohne Regierungserfahrung«, hat also ihre Bereitschaft, sich korrumpieren zu lassen, noch nicht endgültig bewiesen, sondern zu allem Überfluss noch eine Frau. Weiblich und in Regierungsdingen unerfahren? Diese Kombination erscheint den entscheidenden Kapitalfraktionen, die während der Corona-Krise Milliarden geschenkt bekamen und die nun eine Regierung brauchen, die diese Milliarden bei den Lohnabhängigen zum zweiten Mal eintreibt, womöglich als unkalkulierbares Risiko.

Bernhard Torsch schrieb in konkret 3/21 über die sogenannten Experten und ihre Funktion