Nach Kanada

Ein Dokumentarfilm erzählt die Geschichte eines SS-Manns und einer jüdischen KZ-Inhaftierten. Von Stefan Gärtner

Und da war da noch der SS-Unterscharführer aus der Ostmark, ein der Grausamkeit durchaus fähiger junger Mann, der sich als Kommandant des Sonderkommandos »Kanada«, wie die Effektenstelle von Auschwitz genannt wurde, in die jüdische Slowakin Helena Citron verliebt; er sorgt dafür, dass sie nicht hungern muss, hält die Hand über sie und rettet die Schwester vorm Gas, wenn auch nicht deren Kinder, denn Kinder gab es in Auschwitz nicht. –

Nach dem Krieg schreibt der Mann, er heißt Franz Wunsch, seiner Helena glühende Liebesbriefe; doch Helena ist längst in Palästina, heiratet und sitzt später in einem israelischen Fernsehstudio neben ihrer Schwester Roza, von der sie live verflucht wird; die Kamera fängt Helenas Blick ein, und den vergisst man nicht so schnell.

1972 erhält sie einen Brief von Wunschs Ehefrau, die sie bittet, nach Wien zu reisen und zugunsten ihres Mannes auszusagen; dort wird vier NS-Verbrechern der Prozess gemacht, dem kleinsten Teil derer, die Simon Wiesenthal aufgetrieben hat. »Es war schwer, damals einen Schuldspruch zu erreichen«, sagt der Staatsanwalt von einst, und einer der Zeugen erinnert sich an die Geschworenen: »Ich sah 95 Prozent Nazi-Gesichter.« Helena sagt aus, entschlossen, weder das Gute noch das Böse zu verschweigen; sie bricht in Tränen aus, Wunsch kriegt feuchte Augen. Er stirbt 2009 als freier Mann; 2003 erinnert er sich in einem privaten Video daran, wie der Richter des SS-Feldgerichts ihm vor 60 Jahren verständnisinnig zugezwinkert habe. Helena hat ihn nicht verraten. Er wiederum, erzählt sie später, habe sie vor der Erschießung durch Mengele gerettet. Sie stirbt 2007. Das Lied, das sie bei ihrer ersten Begegnung mit Wunsch hat singen müssen, geht so: »Liebe war es nie / denn du hast leider doch kein Herz«.

Die ARD bietet diese Geschichte, überraschend genug, nicht als Knoppsches Dokutainment oder gar Sommerkino an, sondern als solide Dokumentation der israelischen Autorin Maya Sarfaty; dass da, wo Bilder fehlen, ein Puppentheater aus alten Fotografien einspringt, ist verzeihlich, weil Wunsch seine Helena aus Fotos auszuschneiden und an seine Seite zu collagieren pflegte. Dass es Zweikanalton nicht als Möglichkeit gibt, Filme ohne Musiksoße zu senden, ist schade, aber wenn die Musik mal schweigt, reden Helenas weibliche Mitgefangene, die Helena bis heute als »jüdische Hure« verachten oder Verständnis zeigen dafür, dass ihre erste Liebe die zu einem SS-Mann gewesen sei.

»Liebe war es nie«, Dokumentarfilm. Regie/Drehbuch: Maya Sarfaty; IL/AT 2020; 80 Minuten; abrufbar in der ARD-Mediathek