Hatespeech

In einem Bericht wirft Amnesty International dem jüdischen Staat »Apartheid« und »Verbrechen gegen die Menschheit« vor. Von Alex Feuerherdt

Ganz so rasch und einfach kamen Agnès Callamard und Philip Luther am 1. Februar dann doch nicht davon. Die Generalsekretärin von Amnesty International und ihr Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika hatten auf einer Pressekonferenz in Jerusalem gerade den jüngsten Bericht der Menschenrechtsorganisation vorgestellt. Darin werden Israel nicht weniger als »Apartheid gegen die Palästinenser«, ein »grausames Herrschaftssystem« und »Verbrechen gegen die Menschheit« vorgeworfen. Doch bevor die beiden Amnesty-Spitzenfunktionäre die israelische Hauptstadt wieder verlassen konnten, hatte Lazar Berman für die »Times of Israel« noch ein paar Fragen an sie.

Woran es liege, dass Israel auf internationaler Ebene viel häufiger untersucht werde als andere Länder, wollte er wissen. Luther antwortete, dem sei gar nicht so, denn Israel nutze seine guten Beziehungen, um Untersuchungen zu verhindern. Darauf entgegnete der israelische Journalist, es genüge doch bereits ein Blick auf die Flut von UN-Resolutionen gegen das Land. Aber auch das ließ Luther nicht gelten. Die Vereinten Nationen unternähmen ja nichts gegen Israel, sagte er, denn der jüdische Staat habe »Einfluss auf mächtige Verbündete, die diese Untersuchungen dann stoppen«.

Mächtig genug, um einen Bericht von Amnesty International zu unterbinden, ist die jüdische Weltverschwörung allerdings offenbar nicht. Auch die Pressekonferenz von Callamard und Luther im Herzen der Bestie ließ sie uneingeschränkt zu. Nun liegt ein 280 Seiten umfassender Bericht vor, in dem es heißt, Israel habe seit seiner Gründung im Jahr 1948 »ein institutionalisiertes Regime der systematischen Unterdrückung und Herrschaft über die Palästinenser geschaffen«, das es bis heute aufrechterhalte. Dieses »Apartheid-System« werde »durch diskriminierende Gesetze, Programme und Praktiken durchgesetzt« – und das nicht nur in den »besetzten Gebieten«, sondern auch im israelischen Kernland.

Apartheid ist nach internationalem Recht ein Verbrechen gegen die Menschheit (crime against humanity), und genau das wirft Amnesty dem jüdischen Staat vor. Die Organisation beruft sich dabei auf verschiedene Definitionen und Rechtsgrundlagen, etwa auf die Anti-Apartheid-Konvention von 1973. Diese definiert Apartheid als »Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe«, die dadurch systematisch unterdrückt wird. So, wie es zwischen 1948 und 1994 in Südafrika der Fall war. Amnesty International schreibt zwar, man behaupte nicht, dass im heutigen Israel genau das gleiche geschehe. Doch wenn von Apartheid die Rede ist, stellt das rassistische südafrikanische Regime ganz eindeutig den Maßstab dar; der Begriff ist untrennbar mit ihm verbunden.

Südafrika während der Apartheid, das bedeutete eine gesetzlich und institutionell verankerte »Rassentrennung«, mit der die Herrschaft der weißen Minderheit, ihre absolute politische und wirtschaftliche Dominanz aus rassistischen Gründen aufrechterhalten und abgesichert wurde. Apartheid, das hieß: Bänke, auf die sich Schwarze nicht setzen durften, Krankenhäuser, Banken und öffentliche Toiletten mit separaten Eingängen, getrennte Strände und Wohngebiete, Verbot von »Mischehen«, kein Landbesitz und kein oder nur ein stark eingeschränktes Wahlrecht für Schwarze. Nichts davon gibt es in Israel, die Gleichsetzung der »Rassentrennung« in Südafrika mit der Situation der Palästinenser ist schlicht infam.

Dass es in Israel – wie in allen anderen Ländern auch – Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismus gibt, bestreitet kein ernstzunehmender Mensch. Aber wie Amnesty zu behaupten, Israel zeichne sich seit seiner Gründung durch eine »jüdische Vorherrschaft« über eine als minderwertig betrachtete »rassische Gruppe« aus, weshalb es ein Apartheid-Staat sei – das hat mit der Wirklichkeit nichts gemein, sondern dient ausschließlich der Dämonisierung und Delegitimierung des einzigen Staates mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit.

Um zu seinem Apartheid-Befund zu kommen, muss Amnesty International nicht zuletzt die Tatsache aus der Welt schaffen, dass rund 20 Prozent der Israelis nichtjüdische Araber mit vollen demokratischen Rechten sind. Bei Amnesty firmieren sie einfach genauso als Palästinenser wie die arabische Bevölkerung im Westjordanland. Das mag zwar dem Selbstverständnis mancher arabischer Israelis entsprechen, dennoch geht die von Amnesty behauptete Dichotomie nicht auf: Rechtliche Unterschiede gibt es in Israel, wie in jedem anderen Land der Welt, zwischen Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern, aber im Grundsatz nicht unter den Staatsbürgern, seien sie nun jüdisch-israelisch oder arabisch-israelisch.

14 von 120 Abgeordneten des israelischen Parlaments sind arabisch, die Vereinigte Arabische Liste ist an der gegenwärtigen Regierung beteiligt. Arabische Richter gibt es in Israel schon länger, auch am Obersten Gerichtshof. Als der ehemalige israelische Staatspräsident Mosche Katzav im Jahr 2011 wegen Vergewaltigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, hatte das zuständige Gericht in George Kara einen arabischen Vorsitzenden. Arabern stehen in Israel alle Bildungsmöglichkeiten und Berufe offen. In einem Apartheid-Staat wäre all dies nicht möglich.

Die Palästinenser und ihre politischen Organisationen wiederum tragen aus der Sicht von Amnesty offenbar keinerlei Verantwortung für die Situation, wie sie sich heute darstellt, weder historisch noch gegenwärtig. Auch die arabischen Nachbarstaaten scheinen nichts damit zu tun zu haben, schuld ist allein Israel. Palästinensische Terrororganisationen kennt Amnesty nicht, die Hamas ist für sie eine ganz normale Partei, die zweite »Intifada« mit ihren vernichtenden Selbstmordattentaten nur ein »palästinensischer Aufstand gegen Israels Militärherrschaft«.

Folgerichtig fordert Amnesty Maßnahmen, die das Herz jedes BDS-Aktivisten höher schlagen lassen, unter anderem ein Waffenembargo, UN-Sanktionen, die bedingungslose Öffnung der Grenze zum Gazastreifen, ein »Rückkehrrecht« für sämtliche Nachkommen aller Flüchtlinge von 1948 und einen Boykott zumindest aller Produkte aus israelischen Siedlungen. Kurzum: Amnesty International befürwortet ein Ende des jüdischen Staates. Mit diesem Bericht ist die Organisation auf das Niveau einer ordinären antisemitischen BDS-Gruppierung herabgesunken. Genau so sollte man sie deshalb künftig auch behandeln.

Alex Feuerherdt schrieb in konkret 2/22 über die Atomverhandlungen mit dem Iran